Zusammenfassung

 

In meiner Arbeit gehe ich vom Gedanken der Entfremdung in philosophiegeschichtlicher Sicht aus.

"Entfremdung" erscheint dabei in verschiedenartigen Zusammenhängen und Bedeutungen, ausgehend vom aristotelischen Begriff αλλοτρίωση, der auf den von der Polis (in der "Vulgata" auf den von Israel) ausgeschlossenen Menschen angewendet wird.

In der Dekadenzzeit des römischen Imperiums wandelt sich der Entfremdungsbegriff nach einer von Reinhart Maurer vertretenen Theorie um in das theologische Verständnis von Entfremdung als Reaktion auf die Bindungslosigkeit und negativ empfundene Freiheit ausserhalb politisch-sozialer Integration.

Daneben gehen auch das juristische Verständnis von Entfremdung (die Entäusserung von Besitzrechten) sowie die medizinisch-psychiatrische Bedeutung (Wahnsinn oder Irresein) bis auf die Antike zurück.

Das deutsche Wort "Entfremdung" ist anderseits erst an der Wende zum 19. Jahrhundert nachweisbar bei Wilhelm von Humboldt, wenige Jahre bevor im Hegelschen Gedankengebäude die "Entfremdung" ins Zentrum der philosophischen Diskussion rückt.

In der theologischen Tradition lässt sich das griechisch-lateinische Äquivalent des Entfremdungsbegriffes bis in die Gnosis zurückverfolgen. Entfremdung wird in negativer Valenz als Gottferne und Verfallenheit an das Weltliche (das heisst als "Sünde") verstanden, in der mystischen Tradition aber auch positiv als Abwendung vom schädigenden und heilsverhindernden Diesseitsbezug, besonders beeindruckend in Meister Eckharts mystischen Schriften.

Bei Rousseau erhält der Entfremdungsbegriff erstmals eine direkt juristisch-politische Bedeutung mit seiner Vorstellung, dass die Menschen im Gesellschaftsvertrag ihre je eigenen natürlichen Rechte an die Gemeinschaft abtreten (veräussern), um im Einklang mit dem Allgemeinwillen politisch-gesellschaftliche Gleichheit und bürgerliche Freiheit zu konstituieren.

Hegel fasst die "Entfremdung" auf als dialektisches Moment des sich entäussernden Weltgeistes, der Gegenstand seiner selbst wird, um sich in diesem Anderssein ontologisch aufzuheben.

Von den Junghegelianern wird die Hegelsche Triade aufgenommen und in gesellschaftskritischer Absicht ins Sozialpolitische gewendet. Gott erscheint Feuerbach als das dem Menschen entfremdete eigene Wesen, das dieser sich im historischen Prozess wieder aneignet. Auch in Bauers Verständnis hindert die Religion den Menschen an seiner Emanzipation hin zum Subjekt der Geschichte. Und für Hess ist die Entfremdung, die sich wesentlich im Warenverkehr ausdrückt, eine historisch zwar notwendige, aber für die gegenwärtige Zeit überholte Phase der Menschheit – Ausdruck der Abstraktion anstelle der wirklichen, lebendigen Kommunikation zwischen den Menschen.

In Marx' Frühschriften nimmt die "Entfremdung" nochmals einen zentralen Stellenwert ein. Er versteht darunter das Phänomen, dass die menschlichen Beziehungen nur als Verhältnis von Sachen erscheinen und dass die vom Menschen hervorgebrachten Produkte materieller oder geistiger Art ihm als fremde und ihn beherrschende Mächte gegenübertreten.

Die nachmarxsche Diskussion wird beherrscht von der Analyse des Funktionswandels der Dialektik von Hegel zu Marx und innerhalb des Marxschen Werkes. Dort kommt "Entfremdung" wohl bis ins Kapital vor, allerdings mit unverkennbar anderem Stellenwert. Die Veröffentlichung der Philosophisch-Ökonomischen Manuskripte (1932) löst intensive philosophische Kontroversen aus. Wesentliche Beiträge dazu stammen von Korsch, Lukács, Marcuse, Heidegger und Sartre.

In neuester Zeit sind die bedeutendsten Diskussionsbeiträge von Schaff, Kołakowski und den Philosophen um die ehemalige jugoslawische Zeitschrift "Praxis" erschienen. Die Stossrichtung ist dabei die Rehabilitierung der humanistischen Anliegen von Marx, um zur Entstalinisierung der jeweiligen Gesellschaftssysteme beizutragen.

In diesem Theoriefeld ist Fromms Entfremdungsbeitrag zu sehen. Nach einigen beiläufigen Erwähnungen wird "Entfremdung" bei Erich Fromm in der Mitte der 1950er-Jahre mit einem Male zentrales Konzept seiner Sozialphilosophie. Meine Untersuchung zeigt auf, dass Fromm zwar explizit die Gedanken von Rousseau, Hegel und Marx aufnimmt, daneben aber eine ganz persönliche Interpretation von Entfremdung gibt, die an den prophetischen Gedanken des Tanzes um das Goldene Kalb, also an den Götzendienst, die Idolatrie, anknüpft. "Entfremdung" bedeutet für Fromm, dass der Mensch der Verdinglichung anheimfällt, indem er seine ursprünglichen Lebenskräfte einbüsst und zum Opfer manipulativer Kräfte in allen Lebensbereichen wird – vor allem im Kapitalismus.

Der Versuch einer Differenzierung der Entfremdungspassagen im Frommschen Gesamtwerk zeigt, dass Fromm zwar die klassischen Marxschen Kategorien (Entfremdung von der Natur, von den Mitmenschen, von der menschlichen Gattung, von sich selbst, von der Arbeit und von ihren Produkten) aufnimmt, dass sein Verständnis von Entfremdung aber viel umfassender ist, ja den zentralen Begriff einer philosophiegeschichtlichen Gesamtdeutung darstellt, die ich in ihrer dialektischen Struktur offenlege.

Ausgehend von der modernen Evolutionstheorie fasst Fromm den Menschen als Lebewesen auf, dem die natürliche Instinkthaftigkeit verloren gegangen ist. Diesem Mangel, der als lähmende Furcht vor der Freiheit erlebt wird, begegnet er durch den Aufbau gesellschaftlich-kultureller Bindungen sowie durch wirtschaftliche und technische Neuerungen. Bei Fromm ist diese biologische Prämisse mit einer engen Parallelisierung von Ontogenese und Phylogenese verbunden. In einem Wechselspiel von natürlichen Anlagen und sozialem Umfeld progressiv angelegt, kann die Authentizität der seelisch-geistigen Entfaltung des Menschen gefördert, gebremst oder gar verhindert werden. Die menschliche Entwicklung des Menschen steht so in einem Spannungsverhältnis von Progress und Regress, Wachstum und Verkümmerung; dabei werden die positiven Krafte als die "eigentlichen", "ursprünglichen", die negativen als sekundäre Phänomene, als Reaktionsmuster auf Lebensverhinderung, gesehen.

Die Grunderfahrungsweisen des menschlichen Lebens – Spannung, Spaltung, Ausgesetztsein – nennt Fromm "existenzielle Dichotomien", die vom historischen Prozess unbeeinflussbar sind. Sie bilden die Grundformen der Entfremdung. Die "historischen Dichotomien" sind dagegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen, die im Laufe des als Weg vom paradiesischen zum messianischen Zeitalter interpretierten Geschichtsprozesses überwunden werden können. Fromm nimmt dabei – ohne dies aber explizit darzulegen – die Hegelsche Triade auf: Die Geschichte hat in seiner Vorstellung die Tendenz, vom Matriarchat (These: Gleichheit, Menschlichkeit, Sicherheit, bei wirtschaftlicher lneffizienz, fehlender lndividualität) über das Patriarchat (Antithese: Leistungsfähigkeit, Innovation, Individualität, doch Ungleichheit, autoritäre Strukturen, sozialer Kampf, Arbeitsteilung und Privateigentum, Kapitalismus) zum Humanistischen Sozialismus (Synthese der positiven Momente: wirtschaftliche und technische Effizienz, Individualität, Freiheit, Gleichheit, Menschlichkeit, Auflösung von Privateigentum und Arbeitsteilung) fortzuschreiten.

Im kritischen Teil meiner Arbeit weise ich auf die Bedeutung einer geschichtsdialektischen Bewertung des Frommschen Entfremdungskonzeptes hin. Dabei kritisiere ich Fromms Anthropologie als letztlich spekulativ und mythologisch. Ich verdeutliche den Umstand, dass "Entfremdung" bei Fromm weit über den Bereich der marxistischen Kategorien von Privateigentum und Arbeitsteilung hinausweist, und betone die ausserordentlich selektive, problematische Art der Frommschen Marx-Rezeption.

Besonders wichtig ist mir die Hervorhebung der sowohl negativen wie auch positiven Aspekte von Entfremdung bei Fromm. Zudem liegt mir daran, auf einigen Freudschen Theorieelementen zu beharren, die in Fromms Revision ohne überzeugenden Gewinn verloren gehen, speziell die Genese der seelischen Entwicklung. Der biologisch-genetischen Begründung der seelischen Grundvermögen zu "Vernunft". "Liebe", "Wahrheit", "Hoffnung" schliesslich vermag ich nicht zu folgen.

Im abschliessenden Teil meiner Dissertation kritisiere ich die metaphysischen Züge von Fromms Geschichtsbild, in deren Zentrum der Entfremdungsbegriff steht. Ich beharre dabei auf der Absurdität der menschlichen Lebenssituation (mit Camus), lehne apriorische Geschichtsstrukturen ab (mit Horkheimer), verstehe die Funktion des Mythos als Versuch, der Indifferenz der "Welt" zu entfliehen (mit Kołakowski) und halte am Postulat der Rationalität eines demokratischen Sozialismus bei Ablehnung seiner heilsgeschichtlichen Begründung (mit Künzli) fest.