Kapitel 5: Zur Diskussion und Kritik von Fromms historischem Entfremdungskonzept

a) Zur Kritik von Agnes Heller

Die ungarische Marxistin und Lukács-Schülerin Agnes Heller hebt in ihrer Studie "Aufklärung und Radikalismus. Kritik der psychologischen Anthropologie Erich Fromms" [146] hervor, dass Fromm nie seinen Glauben an die Unbesiegbarkeit der guten Substanz im Menschen verloren, sondern ihn mit dem Anspruch auf einen wissenschaftlichen Nachweis zu verbinden versucht habe, ganz im Geiste unseres von den Wissenschaften beherrschten Zeitalters.

So versuche er in Psychoanalyse und Ethik "die Geltung einer humanistischen Ethik dadurch zu beweisen, dass er von ihren Normen erklärt, es handle sich dabei um die 'Normen' der biologischen Konstitution des Menschen selbst". (1978: 165) Heller wendet gegen Fromm ein.

" (...) dass doch alle Normen, die er von der biologischen Natur des Menschen ableitet, wie Vernunft, Wahrheit, die freie Entfaltung der Persönlichkeit usw., Früchte eben dieser 'anormalen' Entwicklung sind". (ebd.)

Von "rein" wissenschaftlichen Tatsachen könne in den Humanwissenschaften aber keine Rede sein:

"Jede Tatsache kann nur innerhalb eines konzeptuellen Schemas, das diese Tatsachen und ihr Verhältnis zueinander ordnet, interpretiert werden." (ebd.)

Fromm trifft damit ihr Vorwurf, unter Berufung auf das alleinige wissenschaftliche Prinzip die Notwendigkeit einer bewussten Wertwahl umgangen zu haben, was ohne Mystifikation nicht möglich sei. Dass aber hinter Fromms Ethik eine solche Wertwahl stehe, hält sie für unabdingbar. lnsbesondere beanstandet sie die Wendung, die Fromm seiner "psychologischen Anthropologie" gibt, um die Setzung von Werten hinter einem objektivierbaren Wahrheitsanspruch zu verbergen.

"Die Antwort auf die Frage, warum er der Bewusstmachung der Wertwahl ausweicht, müssen wir wohl bei den Inspiratoren seiner geistigen Entwicklung und in der sozialen Atmosphäre der Ausarbeitung seiner Theorie suchen: so in seiner Aversion gegen die Wissenssoziologie, deren relative Berechtigung nicht in Abrede gestellt werden kann (Fromm wollte die Wahrheit nicht ausschliesslich von der ideologischen Funktion ableiten). Ferner in seiner Angst vor dem Dezisionismus und nicht zuletzt in der Attitüde Freuds, der dem Problem der bewussten Wertwahl ebenfalls ausgewichen ist, zugleich auch in dem Umstand, dass zum Zeitpunkt der Ausarbeitung der Frommschen Theorie die radikale Bedürfnisse entfaltenden oder sich auf diese gründenden Bewegungen respektive die in ihnen explizierten Bestrebungen wenigstens in Amerika noch nicht existierten." (ebd.: 166)

Mit Freud als "Urquelle von Fromms psychologischer Anthropologie" (ebd.) sei Letzterer dem Geist des rationalistischen Aufklärertums verhaftet geblieben. Doch während Freud einen psychologisch wohlbegründeten anthropologischen Pessimismus vertreten habe, der aus dem Erlebnis der Verzweiflung entstanden sei, habe Fromm "das schwere Freudsche Erbe" (ebd.: 167) – nämlich "die psychologische Vision des von Es und Überich bedrohten Ichs (ebd.) über Bord geworfen und eine "Anthropologie des Glaubens" entworfen, "deren Begründung in der 'guten menschlichen Substanz'" (ebd.) liege, Fromm gehe davon aus,

   "dass die menschliche Persönlichkeit einheitlich und unteilbar sei und dass ihre Selbstverwirklichung, ihre vielfältige und produktive Entfaltung den höchsten Wert darstellt; ferner, dass die auf 'Haben' orientierte Bedürfnisstruktur entfremdet, die Spaltung der kognitiven und der emotionellen Welt eine Folge der Entfremdung ist, und das die blosse Anpassung (adjustment) an das traditionelle und gesellschaftliche System und nicht die Unfähigkeit dazu als Hauptursache der psychischen Störungen betrachtet werden muss." (ebd.: 168)

Damit verbunden sei seine Ablehnung der in den USA vorherrschenden Persönlichkeitsstruktur als eine entfremdete. Fromm sei der Vertreter eines "persönlichkeitstheoretischen Naturalismus", womit Heller "die bewusste (oder auch nicht einmal bewusste) Identifizierung der Begriffe von menschlicher Natur und Gattungswesen, die Ableitung des 'Wesens des Menschen' aus der Natur des Menschen genauer: des einzelnen Menschen" (ebd ) bezeichnen will.

Für Heller ist auch Fromms allgemeine Definition des Begriffs "Aggression" in ihrer allzu weiten Fassung unbrauchbar. Indem Fromm die Aggression von der "menschlichen Natur" her erklären wolle, unterstelle er eine Kontinuität der "vitalen Interessen" und der "existenziellen Bedürfnisse", deren Art und Weise durch die Gesellschaft geregelt werde. Da der dem Menschen immanente Zweck mit seiner biologischen Konstitution vorgegeben sei, müsse eine Gesellschaft, die den Menschen seinem "Wesen" gemäss frei sich entfalten lasse, als "gut" bezeichnet werden, eine diese ver- oder behindernde als "schlecht".

"Mit anderen Worten: Freiheit wird von jeder Gesellschaft gesichert, die die 'ungehemmte Entwicklung des menschlichen Organismus ermöglicht. Eine solche Gesellschaft gab es aber nur vor der Entwicklung der Klassengesellschaft (das heisst der Zivilisation): die paläolithische Jägergesellschaft. Besonders seit der neolithischen Revolution leben die Menschen in einer Art 'Zoo', ihre 'natürliche' Umgebung ist ihnen nicht gesichert. Die Ursache der Aggression (vor allem in ihrer bösartigen Form) ist in der Reaktion der Menschen auf die 'Zoo-Bedingungen' zu suchen. Die Entfremdung wird also von Fromm als eine Verkrüppelung der ursprünglichen Natur des auf Wachstum, Liebe und Vernunft 'programmierten' Menschen interpretiert. Erst die Entfremdung durch die Zivilisation brachte das 'Böse' in die Welt: sie ist infolge dessen mit der Erbsünde identisch." (ebd.: 177)

In diesem Zusammenhang betont Heller, dass der Frommsche Entfremdungsbegriff vom Marxschen völlig abweiche:

"Bei Marx bedeutet Entfremdung (…) nicht Verkrüppelung der ursprünglich dem Menschen innewohnenden Fähigkeiten, sondern im Gegenteil, die Entwicklung der sogenannten 'Gattungskräfte' auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene parallel mit der relativen Verarmung der Individuen. Das heisst: Die Individuen verarmen nicht in dem Sinne, dass sie weniger Fähigkeiten entfalten können als in jenem Zeitalter, welches der Zivilisation vorausging, sondern im Verhältnis zur wachsenden Bereicherung der Gattung, infolge der sogenannten 'urwüchsigen Arbeitsteilung' wird die Kluft zwischen dem Reichtum der Gattung und der Armut der Individuen immer grösser. Marx setzte im Sozialismus keine Gesellschaft voraus, die die freie Entfaltung der im menschlichen Organismus ursprünglich vorhandenen Zwecke 'nicht stört', sondern eine solche, die es durch Aufhebung der 'naturwüchsigen Arbeitsteilung' jedem Individuum ermöglicht, sich den auf gemeingesellschaftlicher Ebene bereits entfalteten Gattungsreichtum anzueignen." (ebd.: 177f.) [147]

Die Vorstellung einer dem Menschen mit seinen vitalen Interessen eingeborenen Freiheit erscheint Heller absurd. Gerade für Lebewesen ohne "Freiheit", etwa einen Baum, könne sie sich "die ungehemmte Entwicklung des Organismus" als wesentliches Merkmal vorstellen. Die Entwicklung des Menschen vollziehe sich nicht so, dass die Gesellschaft dem heranwachsenden Individuum Wasser, Licht und Sauerstoff sichert, sondern:

"(...) sie entwickelt den Menschen aus dem Menschen auf eine Weise, dass das lndividuum seine eigentliche Gattungsmässigkeit, die im Augenblick seiner Geburt ausserhalb seiner selbst existiert, aktiv in sich 'einbaut'. Das heisst: Zum Zeitpunkt seiner Geburt verkörpert der Mensch die 'stumme Gattung", er ist auf gesellschaftliches Sein, auf soziale Zielsetzungen usw. programmiert; gleichzeitig stellt sich aber sein idiosynkretischer Organismus auf die eigentliche Gattungsmässigkeit ein, involviert sich in den von ihr präsentierten jeweiligen Objektivationen (in den verschiedenen historischen Epochen mit mehr oder weniger Möglichkeiten zur Wahl) und entwickelt und erweitert sein eigenes Ich so, dass seine Intention immer mehr die Selektion regelt. Der Mensch will niemals seinen Organismus, sondern immer sein Ich (das bereits ein soziales Ich ist) entwickeln. Die Freiheit als 'vitales Interesse' (oder eher als Bedürfnis) tritt dort in Erscheinung, wo sich das Individuum in der Realisierung respektive in der Erweiterung seines Ichs gehemmt weiss oder fühlt. Diese Hemmung manifestiert sich jedoch in den verschiedenen Gesellschaften unter jeweils ganz anderen historischen Vorbedingungen." (ebd.: 178f.)

Wenn mit der Zivilisation "das Schlechte" in die Welt gekommen sei, so müsste man dies als nur die halbe Wahrheit ansehen, denn mit ihr sei auch das "Gute" gekommen, "denn das 'Gute' und das 'Böse' sind Reflexionsbestimmungen und zugleich moralische Kategorien" (ebd.: 180), die die relativ freie Wahl zwischen "Wertobjektivationen unter der Führung moralischer Normen und ein bewusstes Verhältnis zu ihnen" (ebd.) voraussetze.

"Es gibt keinen Mut ohne den Wertbegriff des Mutes; es gibt keine Ehrlichkeit ohne den Wertbegriff der Ehrlichkeit; und es gibt keine Gerechtigkeit ohne den Wertbegriff der Gerechtigkeit. Die Frommsche Auffassung, nach der die Gerechtigkeit zu unserem 'biophilen Charakter', das heisst zu unserer ureigensten Natur gehört, halte ich für ebenso irrelevant, wie wenn wir sagten, dass die Ungerechtigkeit zu unserer Natur gehöre." (ebd.)

Auffällig erscheint Heller auch, dass Fromm wichtige menschliche Merkmale wie Sprache, Denken und zweckmässige Betätigung als Gattungsdifferenz zum Tier ablehnt, da er Ansätze dazu auch im Tierreich sieht; ihr selbst scheint dagegen "das von der lntelligenz gesteuerte Verhalten (…) zweifellos nur dem Menschen eigen". (ebd.: 182)

"Als äusserst problematisch empfinde ich es, dass Fromm der 'Natur' des Menschen nicht allein das Bewusstsein und Selbstbewusstsein, sondern auch die Vernunft zuordnet. Diese par excellence philosophische Kategorie kann keinesfalls zur psychologischen Anthropologie Fromms gehören, ausgenommen, wir würden sie als Synonym für 'mind' anwenden – wiederum hinzufügend, dass wir selbstverständlich ohne 'mind' geboren werden." (ebd.: 182)

Das Streben nach Wahrheit könne nicht früher entstanden sein als die theoretische Einstellung und dürfe nicht in die menschliche Natur oder gar in den genetischen Code hineingelegt werden.

"Dass dieses biophile Charaktersyndrom nicht die Beschreibung 'des Menschen' im Allgemeinen, auch nicht die des 'guten Menschen' oder der 'menschlichen Natur' ist, vielmehr einen heutigen Menschentyp, den Fromm zu den gleichfalls heute gegenwärtigen Subjekten der Menschheitsvernichtung in Gegensatz stellt, so dass dies der Charakter ist, in dem sich die heutige subjektive Basis der von ihm als positiv beurteilten Möglichkeiten als Gegentendenz verkörpert – ein Subjekt, also, an dessen Verallgemeinbarkeit er in einer möglichen, dem Menschen würdigeren Zukunft glaubt, ja dessen Verallgemeinerung er zur Norm erhebt – ist leicht einzusehen. " (ebd.: 183) [148]

So ist ihr gerade Fromms Polarisierung zwischen "Sein" und "Haben" Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft,

" (...) in welcher der Lebensweg des Menschen nicht von seiner Zugehörigkeit zu einer organischen Gemeinschaft (zum Beispiel durch Blutsverwandtschaft) bestimmt wird, sondern in der für das allgemeine Äquivalent (Geld) praktisch alles käuflich ist und in der das Prinzip der 'freien Konkurrenz' vorherrscht, das darin besteht, immer mehr und immer grösseren Besitz zu schaffen." (ebd.) [149]

Die Differenzen zu Fromm sieht sie nicht im Wertmässigen – auch sie befürwortet prinzipiell eine Lebensgestaltung auf der Basis der persönlichen Entfaltung der Individuen, sondern in der theoretischen Begründung der biophilen Werte:

"Dieses Syndrom [von Liebe und Vernunft, U. A.] stellte von Anfang an die von der bürgerlichen Gesellschaft produzierten Wertobjektivationen ihrer eigenen Wirklichkeit gegenüber. Und hier kehren wir nun zur Unterscheidung der Begriffe des 'Gattungswesens' und der 'menschlichen Natur' zurück. Zum Gattungswesen gehören all jene Objektivationen (gleichgültig, ob es sich um gegenständliche Objektivationen oder sich in Normen ausdrückende Wertobjektivationen handelt), die sich historisch entwickelt haben und im Verlauf der Epochen zum Allgemeingut der Menschheit geworden sind. Die Auffassung von Fromm, dass der 'biophile Charakter' zum Gattungswesen gehört, teile ich mit ihm; seine Konzeption, nach der der 'biophile Charakter' zur sogenannten 'menschlichen Natur", das heisst zu den biologischen Konstituenzien des Menschen gehört, kann ich hingegen nicht akzeptieren, da ich der Marxschen Theorie folgend behaupte, dass die Geschichte die 'wahre Natur' des Menschen ist, und davon überzeugt bin, dass sich Fromms Charakterpräferenz auch ohne Theorie des 'biophilen Charakters' und der 'gutartigen Aggression begründen lasst." (ebd.; 184)

ln Fromms Theorie sieht sie den Irrtum, die Natur des Homo sapiens "aus dem vom heutigen Menschen Erlebten und aus seinem Verhältnis zur Welt rekonstruiert" (ebd.: 201) und die Ethik naturalisiert statt geschichtlich entwickelt zu haben. Auf den Menschen des Paläolithikums bezogen, bestreitet Heller, dass jene Menschen, die in eine auf Blutsverwandtschaft bestimmte Gesellschaft hineingeboren wurden, von Fromms existenziellen Bedürfnissen bestimmt waren; so hätten sie zum Beispiel nach Hellers Meinung das existenzielle Erlebnis der Isolation einfach nicht gehabt, und es habe damals auch "keinen solchen Menschen, der, seine Zweifel bezwingend, mit der Setzung eines Lebensziels seinem Leben Sinn gäbe" (ebd.: 203) gegeben.

"Da Fromm bei der phänomenologıschen Beschreibung der existenziellen Bedürfnisse vom modernen Menschen ausgeht, ist es kaum verwunderlich, dass er nicht 'zum Menschen", sondern zu den Erlebnissen (beziehungsweise zum Erlebnismangel) des modernen Menschen gelangt. Wenn wir aber die Theorie der existenziellen Bedürfnisse auf diese Weise interpretieren, können wir durchaus erklären, dass Fromm hier unversehens ins Quellengebiet der Aggression in jenem Sinne des Wortes gelangte, der seiner 'geheimen Fragestellung* entspricht: Er schildert den Hang zur Destruktivität und Gewalt und dessen psychische Prädispositionen im Menschen unserer Tage." (ebd.: 204)

Die von Fromm beschriebenen Charakterstrukturen sind nach Hellers Ansicht Beschreibungen des modernen Menschen; es sind die vom sozialen Charakter gegebenen Antworten auf die condition humaine, die sich in der bürgerlichen Weltepoche mit der Auflösung der gemeinschaftlichen Beziehungen, mit der Entfaltung der 'reinen Gesellschaft und ihrer Atomisierung gestaltete". (ebd.: 211)

 

Persönliche Bewertung

Mit Hellers Kritik bin ich in den meisten Punkten einverstanden, Fromms naturalistische Ethik lehne ich ebenso wie sie ab. Werte wie Vernunft, Wahrheit und Solidarität sind als kulturelle Phänomene zu betrachten, deren inhaltliche Bestimmung nicht einfach in einem "wahren Selbst" aufgefunden werden kann. Sie müssen in bewusster Entscheidung in der sozialen Praxis umgesetzt werden. Fromms Ethik ist in meinen Augen Ausdruck eines mystifizierenden Denkens. Ethische lnhalte gehen der menschlichen Existenz nicht als innerseelische Leitbilder voraus, sondern sind Begleiterscheinungen des sozialen Prozesses, vermittelt durch die Erziehung, im Sinne des von Freud entwickelten seelischen Instrumentariums (Identifikation, Projektion, Kompensation, Sublimierung etc.).

Die positive "Anthropologie des Glaubens" auf der Grundlage einer "guten menschlichen Substanz" betrachte ich als Ausdruck eines Wunschdenkens, die spekulativ und letztlich einem mythologischen Denken verpflichtet ist, ohne sich dessen bewusst zu sein oder ohne dies zumindest offen zu deklarieren.

In einem Punkt geht Heller jedoch nicht vom richtigen Verständnis aus. Die Entfremdung kommt nicht erst mit der Zivilisation in die Welt, und sie ist auch nicht das, was Fromm im religiösen Sprachgebrauch als "Erbsünde" bezeichnet. Heller differenziert nicht zwischen den existenziellen und den historischen Dichotomien, die jeweils ganz andere Formen von Entfremdung bewirken. Und was Fromm tatsächlich unter "Erbsünde" versteht, ist die Trennung des Menschen vom Naturzustand, wodurch er gezwungen ist, sich auf den geschichtlichen Weg der Entfaltung seiner ihm innewohnenden Kräfte zu machen. Im Gegensatz zum religiösen Denken ist die "Ursünde" für ihn nicht schuldhaft, da die Entfremdung von der Natur der menschlichen Freiheit vorausgeht. Neue, historisch bedingte Entfremdungsformen entstehen dann im Laufe des Zivilisationsprozesses. Man kann es tatsächlich so ausdrücken, dass "das Böse" mit der Zivilisation in die Welt kommt, nämlich mit den das Individuum schädigenden Einschränkungen und Deformationen, die seine primären Möglichkeiten zum Guten obstruieren. Erst im sozialen Prozess, im Wechselspiel von Naturanlagen und historisch-gesellschaftlicher Entwicklung, konstituiert sich der Mensch als ethisches Wesen.

Allerdings sehe ich als besondere Schwierigkeit zu verstehen, wie diese dem Menschen innewohnenden biophilen Potenzen zugleich zu seiner biologischen Ausstattung (verankert sogar im genetischen Code) gehören sollen, aber dann doch erst in dem Moment zum Tragen kommen, wenn der ursprüngliche Naturzustand beendet ist, also geschichtlich begründet sind. Hier liegt in meinen Augen ein innerer Widerspruch in Fromms Anthropologie.

Die philosophischen Differenzen zwischen Fromm und Marx sind – wie Heller am Entfremdungsbegriff richtig aufzeigt – erheblich. Fromms Verständnis von Marx ist sehr selektiv und seinen eigenen Anliegen entsprechend umgedacht (ebenso natürlich das von Freud). Anderseits ist es nicht Fromms Meinung, dass der Mensch der vorzivilisatorischen Zeit grundsätzlich mehr von seinen Fähigkeiten entfalten konnte als der heutige – im Gegenteil, er war in seinen Möglichkeiten durch die Bindung an die Menschengruppe, in der er lebte, völlig eingeschränkt, und seine Vernunft, als Teil der menschlichen Anlagen, war erst rudimentär ausgebildet.

Zu beachten ist ferner, dass Fromm nicht von "Zwecken" spricht, die dem menschlichen Organismus eingeboren sind, sondern von "Zielen". Die Nuance liegt darin, dass Fromms Gedanken als Ausdruck eines entelechischen Prinzips zu verstehen sind, also nicht eigentlich als teleologisch zu sehen sind. Es geht ihm um die Entfaltung eines Wachstumsprinzips. Ganz streng genommen muss im Zusammenhang mit Fromms Denken von einer deontologischen Ethik gesprochen werden. Denn Fromm weist einzelne Handlungen und Verhaltensweisen als moralisch gut aus, weil sie in sich selbst gut sind, und nicht erst in Bezug auf anzustrebende Ziele. Allerdings geht Fromm nicht auf Konfliktsituationen ein, die zwischen diesbezüglichen ethischen Ansprüchen auftauchen können, und er liefert auch keine Stufenordnung der Werte, so dass diese in konkreten Situationen ziemlich abstrakt wirken. Ich sehe in diesem Vorgehen die Übertragung des eidetischen Prinzips von Platon aus dem Bereich der Ontologie auf die Sozialpsychologie mit Hilfe eines psychoanalytischen Instrumentariums.

 

b) Zur Kritik von Leszek Kołakowski

Als einen "der berühmtesten Häretiker des Freudianismus" (1979: 376) bezeichnet Kołakowski in der dreibändig angelegten Studie Die Hauptströmungen des Marxismus [150] Erich Fromm:

"Die Revision, die Fromm neben Karen Horney und Harry Stuck Sullivan am Erbe Freuds vornahm, war derart gründlich, dass von den ursprünglichen Prämissen der psychologischen Anthropologie und Kulturtheorie, ja sogar der Neurosenlehre ausser der allgemeinen Fragestellung nicht viel übrig bleibt." (ebd.: 413)

Während er mit den andern Vertretern der Frankfurter Schule überzeugt gewesen sei, "dass die Marxschen Analysen der Verdinglichung und Entfremdung weiterhin gültig sind und die grundlegenden Probleme der modernen Zivilisation insgesamt erfassen" (ebd.) – was nicht ganz zutrifft, denn Marcuse zum Beispiel hielt den Entfremdungsbegriff als analytisches Instrument der modernen Gesellschaft für in operabel (vgl. S. 50f. meiner Arbeit) – habe er der besonderen Befreiungsmission der proletarischen Klasse überhaupt keine Bedeutung zugemessen, "ihn interessiert das Problem der Entfremdung, das alle gesellschaftlichen Klassen berührt". (ebd.: 413f.)

"Dagegen teilt er nicht den für Adorno charakteristischen Negativismus und Pessimismus; ihm ist zwar jeglicher Geschichtsdeterminismus fremd, und er rechnet nicht damit, dass die richtige Gesellschaftsordnung sich aus dem Wirken historischer Gesetze ergeben wird, doch ist er zutiefst überzeugt, dass die Menschen ein gewaltiges schöpferisches Potenzial besitzen, das sie mobilisieren können, um die Fremdheit im Verhältnis zueinander und zur Natur zu überwinden und eine Ordnung zu errichten, die auf gegenseitiger Liebe beruht und mit der menschlichen Natur im Einklang steht." (ebd.: 414)

ln Kołakowskis Augen strahlen Fromms Schriften Güte und Menschenfreundlichkeit aus. Sein Glaube an die menschliche Fähigkeit zu Freundschaft und Zusammenarbeit habe seinen Widerstand gegen die "monadische Anthropologie" Freuds noch vertieft.

"Man kann Fromm als den Feuerbach unserer Zeit bezeichnen. Seine Bücher sind klar und lesbar, und ihre didaktische und moralisierende Absicht wird nicht versteckt, sondern stets direkt ausgesprochen." (ebd.)

Fromm akzeptiere eine gewisse Summe konstanter Antriebe im Menschen, so dass man in diesem Sinne von einer "unveränderlichen menschlichen Natur" sprechen könne, womit gemeint sei, dass der Mensch nicht grenzenlos geformt (und deformiert) werden könne. Fromms Revision des Freudianismus hat nach Kołakowski einen marxistischen Ansatz, "weil er die menschlichen Beziehungen durch historische Umstände und nicht durch Schutzmechanismen erklärt, die mit der Triebenergie zusammenhängen". (ebd.: 417)

"Für Fromm sind die 'Pariser Manuskripte' von Marx ein Grundlagentext, den er in der Interpretation der Lehre als ein normatives Muster heranzieht. Er behauptet zwar, dass von einem wirklichen Bruch zwischen dem Jahr 1844 und der Entstehungszeit des 'Kapital' bei Marx keine Rede sein könne (...), räumt jedoch ein, dass der Elan der Frühschriften in den späteren Werken sozusagen erloschen sei." (ebd.)

Zentral sei bei Fromm der Begriff der Entfremdung, "der gleichsam die Summe der Unfreiheit, des Unglücks, der Einsamkeit und des Bösen, unter dem die Menschheit leidet, zusammenfasst". (ebd.)

Fromm habe sich Verdienste erworben, wenn er darüber aufgeklärt habe, dass der historische Materialismus, wie er von Marx begründet wurde, nicht eine Lehre der menschlichen Motivationen sei, "die sich angeblich stets auf das materielle Interesse richten" (ebd.: 418). 161

Ansatzpunkt für Fromms Synthese von Marx und Freud ist in Kołakowskis Augen die Erkenntnis, dass der Mensch nicht einfach Spielball irrationaler Mächte sein müsse, sondern sein Schicksal selbst meistern könne und sich von seiner Rolle als Opfer eines falschen Bewusstseins und falscher Bedürfnisse befreien könne, wenn er sich seiner eigenen Antriebe bewusst werde.

"Marx möchte, dass die Menschen wieder zur Einheit mit sich gelangen, aber auch mit der Natur (dieses in den 'Pariser Manuskripten' auftauchende Motiv wird bei Fromm sehr stark betont). Er möchte, dass die Fremdheit zwischen Subjekt und Objekt sich verwischt; insofern konvergiert sein Denken, wie Fromm meint, nicht nur mit der ganzen Tradition des deutschen Humanismus, sondern auch mit dem Zen-Buddhismus." (ebd.)

Nicht die ungerechte Verteilung der Arbeitsprodukte sei das Anliegen von Marx gewesen, sondern die Entfremdung der Arbeit, der Sinnverlust im Arbeitsprozess, die Verwandlung des Menschen in eine Ware und die damit einhergehende Erniedrigung des Menschen, der Verlust seiner Menschlichkeit.

Allerdings ist in Kołakowskis Augen die Marx Rezeption Fromms "äusserst selektiv", wenn dieser auch von einer richtigen Interpretation des Humanismus von Marx ausgehe:

"Das Problem der positiven Funktionen der Entfremdung und der Rolle des Bösen in der Geschichte wird bei Fromm nicht reflektiert; Entfremdung ist für ihn wie für Feuerbach das Böse schlechthin. Ausserdem übernahm Fromm von Marx lediglich die Idee des 'ganzen Menschen', der utopischen Versöhnung mit der Natur und das Ideal vollkommener Solidarität, welche die schöpferische Entfaltung des Einzelnen nicht nur nicht hemmt, sondern anspornt. Er übernahm von Marx somit die Utopie, aber eigentlich nichts von dem, was Marx über die Wege lehrt, die zu ihr führen sollen – nichts von seiner Theorie des Staates, des Proletariats und der Revolution. Er übernahm, was sich am leichtesten übernehmen lässt und am wenigsten kontrovers ist. (...) Kurz, der Marxismus Fromms reduziert sich nahezu auf unumstrittene Wünsche. Es wird aus seinen Analysen jedoch nicht klar, wie das Böse und die Entfremdung zur Herrschaft gelangten und worauf sich die Hoffnung stützen soll, dass die gesunden Tendenzen im Menschen sich am Ende gegenüber den destruktiven durchsetzen werden." (ebd.: 419f.; meine Hervorh.)

Kołakowski anerkennt, dass Fromm beträchtlich dazu beigetragen habe, die humanistischen Züge von Marx zu popularisieren; er habe es aber versäumt, sich mit den Zusammenhängen zwischen dem Marxismus und dem modernen Kommunismus zu befassen und sich damit begnügt, die Unvereinbarkeit des kommunistischen Totalitarismus mit dem Ideal der Pariser Manuskripte festzuhalten.

"Sein Marxbild ist deshalb beinahe genauso simplifizierend und einseitig wie das Bild, das er kritisiert und das den Marxismus als einen fertigen Entwurf des Sozialismus hinstellt. Was nun die prästabilisierte Harmonie zwischen dem Marxismus und dem Zen-Buddhismus betrifft, so stützt sie sich auf einige Sätze aus den 'Manuskripten', in denen von der Rückkehr zur Einheit mit der Natur die Rede ist. Diese Sätze stimmen sicherlich mit dem Gesamtcharakter überein, der die Apokalypse einer totalen und absoluten Versöhnung von allem mit allem beim jungen Marx auszeichnet, doch wäre es übertrieben, sie zum unveränderlichen Kern der Marxschen Lehre zu zählen. In Fromms Rezeption hat sich nur die rousseauistische Seite des Marxismus erhalten." (ebd.: 420f.) [152]

So erkennt Kołakowski in Fromms Werk "die typische Zweideutigkeit des utopischen Denkens", welche "normative und deskriptive Ideen in eins setzt" (ebd.: 420) und auch bei Marx sowie bei vielen Marxisten festzustellen sei.

"Einerseits behauptet er, dass sich das von ihm beschriebene Ideal aus der menschlichen Natur herleite, wie sie tatsächlich beschaffen ist, auch wenn sie nicht verwirklicht wurde, dass es also wahrhaftig die Berufung des Menschen sei, in Freundschaft mit anderen zu leben und gleichzeitig seine Persönlichkeit zu entfalten; andererseits ist er sich bewusst, dass die 'menschliche Natur' zugleich ein normativer Begriff ist." (ebd.: 420)

Es sei klar, dass der Begriff der Entfremdung (oder des Abstreifens der "menschlichen Natur" durch den Menschen) und die Unterscheidung zwischen "fa1schen" und "wahren" Bedürfnissen ein Wissen um die "menschliche Natur" voraussetze, wie sie potentiell im menschlichen Sein angelegt ist.

"Dagegen ist nicht klar, woher wir erfahren können, dass die Natur des Menschen gerade Solidarität und nicht Aggression verlangt. Die Aussage, dass die Menschen tatsächlich zu Solidarität, Liebe, Freundschaft und Aufopferung fähig seien, ist zwar richtig, aber es folgt aus ihr nicht, dass diejenigen, die dazu fähig sind, eminent die menschliche Natur repräsentieren, im Gegensatz zu jenen, die entgegengesetzten Eigenschaften verkörpern." (ebd.) [153]


Persönliche Bewertung

Kołakowski stellt die Grundintentionen Fromms richtig dar und legt den Finger auf die wundesten Stellen. Seine Charakterisierung Fromms als "Feuerbach unserer Zeit" ist überaus treffend. Das heisst aber nicht, dass in ihm nicht auch ein gutes Stück Aristoteles, Spinoza, früher Marx und vor allem Hess und Bauer steckte. Dass Fromms Marx-Lektüre sehr selektiv ist und ganz bestimmte Akzente auf die humanistische Perspektive des frühen Marx legt, wurde bereits unterstrichen. Dies verdient nicht nur Kritik, sondern auch Lob. Hingegen lieferte Fromms Popularisierung von Marx in den USA der sechziger Jahre ein sehr beschönígendes Bild von dessen Lehre und Charakter.

ln der Ablehnung von Marx' Staatstheorie, der führenden Rolle der kommunistischen Partei und der Diktatur des Proletariats stimme ich mit Fromm zwar völlig überein, doch entsteht bei ihm daraus ein politisches Handlungsdefizit, das unbefriedigend ist und insbesondere vor der Frage nach dem Subjekt historischer Veränderungen ganz versagt. Der Appell an "die Menschen" im Allgemeinen und deren biophile Potenzen, der Verzicht auf eine soziologische Analyse nach Klassen oder sozialen Schichten, seine prinzipielle Ablehnung von Gewaltmitteln und seine Universalisierung der menschlichen Authentizität gibt seiner Utopie den liberalen (um nicht zu sagen pastoralen) Anstrich und macht seine politischen Postulate oft ebenso erbaulich wie ohnmächtig.

Allerdings differenziert Kołakowski nicht zwischen den verschiedenen Grundformen von Entfremdung – den existenziellen und den historischen. So verkürzt seine Gleichsetzung von "Entfremdung" und "Bösem" Fromms Konzept. Für diesen ist die Geburt des Menschen als Gattung und Individuum, obwohl mit grundsätzlicher Entfremdung (von der "Natur") verbunden, nichts grundsätzlich Böses, sondern im Gegenteil die Chance zur Selbstverwirklichung, der Ausgangspunkt der menschlichen Geschichte. Hingegen ist in Fromms Interpretation die Trennung des Menschen von der Natureinheit in religiöser (besonders biblischer) Sprache die "Ursünde", die mit dem Symbol des Satans, der Schlange, assoziiert ist. Fromm hält die Schlange im Paradies jedoch nicht für eine Verkörperung des Bösen, und es wäre ein Missverständnis, in dieser Hinsicht seinen Standpunkt mit jenem zu identifizieren, den die jüdischen oder christlichen Theologen gegenüber dem Alten Testament einnehmen.

Mit Kołakowski (und andern Kritikern) lehne ich Fromms theoretische Begründung der "wahren" und "falschen" Bedürfnisse ab und betrachte sie als Setzungen, deren sich ihr Autor offensichtlich nicht bewusst ist, als Elemente, die in Fromms zweifellos biophilem Charakter gründen, in sein philosophisches Denken einfliessen und in seinen Werken als universelle Moral festgeschrieben werden. Naturalistisch lassen sich die ethischen Grundfragen sicher nicht lösen. Wie dies in befriedigender Weise geschehen kann, möchte ich in meinen Schlussbetrachtungen kurz ansprechen.

Es wäre eine denkbare Aufgabe, mit Künzlis Ansatz einer "Psvchografie", wie er sie am Beispiel von Kierkegaard und Marx entwickelt hat, aufzuzeigen, wie sich Fromms persönliche Erfahrungen insbesondere die konflikthafte Beziehung seiner Eltern (was wohl einen Erklärungsansatz für seine tiefe und lebenslang anhaltende Faszination durch den prophetischen Friedensgedanken bietet), aber auch spätere Erlebnisse in sein Weltbild drängen. [154] So fällt beispielsweise auf, wie sich Fromms Kritik der historischen Religionen in den vierziger Jahren deutlich mässigt, parallel zu seiner tiefen Verbindung mit der gläubigen Jüdin Henny Gurland. Dies führte auch zur grundsätzlichen Unterscheidung zwischen rationalen und irrationalen Religionsformen und zur entsprechender Bewertung der Religiosität. Oder nennen wir als weiteres Beispiel die nachhaltige Wirkung des Selbstmordes einer mit Fromms Eltern befreundeten jungen Künstlerin, was Fromm Jahrzehnte später bei der Ergänzung seiner Charakterstrukturen mit dem Konzept der Nekrophilie mitbeeinflusste (siehe auch im Abschnitt zu Fromms Biografie, S. 256).

Man müsste sich aber vor einer vulgärpsychoanalytischen Betrachtungsweise sehr hüten. Die bis heute publizierten biografischen Unterlagen lassen auf jeden Fall eine genügend differenzierende "psychografische Studie" nicht zu.

 

c) Zur Kritik von Arnold Künzli

In seiner umfangreichen Studie Mein und Dein. Zur ldeengeschichte der Eigentumsfeindschaft [155] charakterisiert Künzli Fromms Ansatz mit den Worten:

"Sein ganzes Denken ist auf Einheit gerichtet, und entsprechend versuchte er die geistigen und religiösen Strömungen, die er als die unsere Zeit positiv bestimmenden empfand, in seinem philosophischen Denkgebäude zur Einheit einer modernen Heilslehre zu verschmelzen. Das ging freilich nicht ohne gewagte Amputationen, und so könnte man denn simplifizierend diese Heilslehre umschreiben als die versuchte Einheit eines Judentums ohne Messias, eines Christentums ohne Gott, eines Marxismus ohne Revolution und einer Psychoanalyse ohne Ödipus." (1986: 570)

Fromm habe die Psychoanalyse im Sinne der Mystik gedeutet, und das Eigentum spiele in seiner humanistischen Ethik "die eine unzertrennliche Einheit bildet mit seiner Mystik und seinem radikaldemokratischen Sozialismus" (ebd.: 574) die Rolle der Schlange im Paradies.

"Aber ähnlich wie die Kirchenväter interessiert Fromm sich nicht so sehr für das Eigentum als Institution als viel mehr für dessen Eigenschaft, den Menschen zum Habenwollen zu verführen und damit seiner Bestimmung zu entfremden. Entfremdung ist für Fromm identisch mit der biblischen ldolatrie, dem Götzendienst, und der Hauptgegenstand dieses Götzendienstes ist das Eigentum in allen seinen Erscheinungen. 'Haben oder Sein", das ist die Hamletfrage in der Fassung Fromms, vor die er die Menschen stellt und deren Beantwortung über Heil und Unheil, gut oder böse. Einheit oder Entfremdung, Biophilie oder Nekrophilie, Liebe oder Destruktivität, Sozialismus oder Klassengesellschaft entscheidet. Es ist 'das entscheidendste Problem der menschlichen Existenz'." (ebd.)

Im Zentrum von Fromms Interesse stehe zunächst "das bürgerliche Individuum, das durch sein Habenwollen als Bourgeois sich selbst und seiner Bestimmung entfremdete Ich, nicht die durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln und damit strukturell bedingte Entfremdung, auch wenn selbstverständlich die kapitalistische Gesellschaft verantwortlich gemacht wird für die Korruption des Individuums durch die Besitzbesessenheit." (ebd: 576f.)

Fromms Genesis erscheint Künzli als moderner Beitrag zur alten Diskussion um den "guten Wilden":

"Phylogenese und Ontogenese stimmen bei Fromm überein. Ebenso wie er eine biologisch fixierte gute Substanz des Menschen annimmt, glaubt er an eine historisch bestimmbare gute Substanz der ursprünglichen menschlichen Gesellschaft. Das nimmt sich aus wie ein messianisch verklärter und psychoanalytisch aufgeklärter Rousseau (...)." (ebd.: 588)

Das Problem der durch Habenwollen, Eigentum und Kapital bedingten Entfremdung durchziehe Fromms ganzes Werk. Trotzdem sehe Fromm – "im Gegensatz etwa zur paranoischen Theorie Adornos, deren absoluter gesellschaftlicher 'Bann' kein Entkommen zu lässt" (ebd.: 593) – für den modernen Menschen noch Möglichkeiten der Nichtkonformität und des persönlichen Spielraums:

"Eigentum, die Gier danach und seine Umwandlung in privates Kapital sind auch für ihn aller menschlichen und gesellschaftlichen Laster Anfang. Fromm ist Sozialist, aber 'mit der Abschaffung des sogenannten Privateigentums ... wird noch keine neue Gesellschaft geschaffen – das Eigentumsgefühl bleibt. Die wirkliche Frage ist, ob der Schwerpunkt vom Haben auf das Sein verlegt wird ...' Allerdings gerät Fromm hier in einen Widerspruch zu seiner Grundthese, wonach der Habenmodus der Existenz sich vom Charakter des Privateigentums ableite, wenn er dann die Bedeutung einer Abschaffung des Privateigentums etwas relativiert mit der Bemerkung, es komme einzig auf die innere Einstellung an, und wenn das Haben nicht mehr wichtig sei, komme es mehr mehr darauf an, ob einer ein bısschen mehr habe als ein anderer." (ebd.: 593)

Das seien aber die Worte des alten, seinen eigenen Vorschlägen gegenüber nun skeptisch gewordenen Fromm, "der den Untergang der Welt durch einen Atomkrieg oder andere Katastrophen für wahrscheinlicher hält als ein 'Wunder des Wandels in seinem Sinne" (ebd.), ebenso einen "Faschısmus ihm mit lächelndem Gesicht" eher für möglich erachtet als einen demokratischen Sozialismus.

Künzli weist darauf hin, dass auf den Frommschen Sozialismus "auch noch das Licht einer anderen Welt" (1986: 593) scheine, und dass immer noch Hoffnung bestehe, solange diese Welt nicht untergehe:

"Fromms Botschaft kann am ehesten charakterisiert werden als eine innerweltliche Heils- oder Erlösungslehre, wie sie dem Judentum entsprıcht. So sehr auch Fromm versuchte, seine Philosophie von allen Bezügen zur Transzendenz freizuhalten, so unverkennbar ist sie durch eine tiefe Religiosität geprägt. Auch für diesen jüdischen Sozialisten ist der Exodus der Hebräer aus Ägypten das archetypische Symbol einer Revolution, die er eine soziale nennt, die aber darüber hinaus von der Hoffnung auf Erlösung inspiriert ist." (ebd.: 593f.). [156]

Künzli hebt hervor, dass der Auszug aus Ägypten durch die Wüste mit dem Eingreifen Gottes in Form der Mannaspeisung das Symbol der Seinsorientierung darstelle, wo das Leben gelebt und nicht gehortet wird:

"Die Wüste ist Symbol einer eigentumsfreien Gesellschaft. In 'Haben oder Sein' sagt Fromm dazu: 'Die Wüste ist das Schlüsselsymbol in dieser Befreiung Sie ist kein Zuhause, sie hat keine Städte, sie hat keine Reichtümer, sie ist das Land der Nomaden, die haben, was sie brauchen, das heisst nur das Lebensnotwendige, keine Besitztümer.' Es sei möglich, dass die nomadischen Traditionen die Tendenz gegen jedes nichtfunktionelle Eigentum und die Entscheidung für ein Leben in Freiheit beeinflusst hätten: 'Aber diese historischen Faktoren unterstreichen nur die Bedeutung der Wüste als eines Symbols des freien, durch keinen Besitz beschwerten Lebens.'

   Erst im Zusammenhang mit dem Manna-Gebot jedoch erhält das ganze Geschehen seinen archetypischen Charakter als Symbol einer von Gott gewollten eigentumslosen, Kapitalismus verbietenden Lebensweise: Gott verbietet das Horten der Lebensmittel, die er den Hebräern schenkt, und damit die Habgier, das Besitzstreben und das Akkumulieren von Kapital. Jeder darf nur so viel nehmen, als er verzehren kann: 'Hier ist erstmals ein Prinzip formuliert, das durch Marx berühmt wurde: 'Jedem nach seinen Bedürfnissen'." (ebd.: 594)

Neben der Mannaverteilung unterstreicht Künzli auch den Gedanken des Sabbat als symbolische Vorwegnahme des künftigen harmonischen Zustandes der Menscheit in Parallele zu Marx' Vision einer klassenlosen Gesellschaft:

"Beinahe überflüssig ist es hervorzuheben, dass im Sabbat wie im Kommunismus das Habenwollen abgestorben, das Eigentum abgeschafft oder zumindest tabuisiert ist und der Mensch seine Identität in Freude und Frieden, versöhnt mit sich und der Natur, gefunden hat: Fromm: 'Der Sabbat ist ein Tag der Freude, weil der Mensch ... ganz er selbst ist': Marx: 'Der Mensch eignet sich sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art an, also als ein totaler Mensch'; Fromm: Der Sabbat ist 'der Tag, an dem Besitz und Geld ... tabu sind". der 'Besitz bedeutungslos' wird und 'die Ausübung der dem Menschen eigenen Kräfte das Ziel des Lebens sein würde'; Marx: 'Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht, dass ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben ... Die Aufhebung ist daher die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften." (ebd.: 596)

Ein Unterschied sei darin zu sehen, dass bei Marx auch der künftige Mensch noch arbeiten müsse und so noch dem Reich der Notwendigkeit verhaftet bleibe. Doch die Gemeinsamkeit von Fromms Sabbatgedanken und Marx' Reich der Freiheit ist für Künzli so gross, "dass es nicht als eine allzu gewagte Hypothese erscheint, in der Kommunismusvision von Marx eine unbewusste Projektion des Traums des Judentums von einem permanenten, nie endenden Sabbat zu sehen". (ebd.: 597) Die Parallele verstärke sich, wenn man bedenke, dass das Marxsche Proletariat (wie Künzli schon 1966 in seiner "Psychographie" zu Marx ausführlich nachgewiesen hat), überdeutlich Züge des Volkes Israel trägt.

"Der Kommunismus als permanenter Sabbat und Erfüllung der Messianischen Zeit, das war sogar explizit die Vision von Moses Hess, des Juden und Sozialisten, der als Freund und Mitstreiter des jungen Marx an der Entwicklung seines Proletariatsbegriffs nicht unbeteiligt war." (ebd.) 

Auch Fromm weise wiederholt darauf hin, dass am Sabbat Besitz und Geld als "tabu" zu betrachten sind. So ist für Künzli evident:

"Die Messianische Zeit als permanenter Sabbat – das heisst Kommunismus – hebt den Sündenfall wieder auf. Wir erinnern uns, dass die Kirchenväter das Privateigentum als eine Folge des Sündenfalls interpretierten und durch diesen legitimierten. So ist es nur konsequent, wenn der permanente Sabbat als Kommunismus in der Messianischen Zeit, indem er den Sündenfall aufhebt, auch das Privateigentum aus der menschlichen Geschichte wieder verabschiedet." (ebd.: 598)

In der eigentumslosen messianischen Zukunft wird Privateigentum anachronistisch:

"Wozu auch Privateigentum, wenn die Gesellschaft für das Manna sorgt?" (ebd.)

Künzli schliesst sein Fromm-Kapitel mit dem Hinweis auf die Funktion des Privateigentums als Goldenes Kalb, "durch das das Volk Israel sich zum Habenwollen verführen, vom Heilsweg abbringen und Gott die Treue brechen lässt". (ebd.: 599)

"Gott entbrennt in Zorn und verliert die Geduld mit diesem 'gottlosen' Volk. Er will es vernichten, besinnt sich dann aber eines Besseren, wie Moses ihn an seinen Bund mit Abraham erinnert. Er schliesst einen neuen Bund mit seinem Volk – und das ist für Fromm ein Symbol für die Hoffnung darauf, dass der Exodus der Menschheit aus dem Haben sie schliesslich doch noch ins gelobte Land des Seins und eines nie endenden Sabbats der Ruhe, des Friedens, der Freude und der Einheit führen werde." (ebd.)

 

Persönliche Bewertung

Künzli betrachtet Fromm etwas zu einseitig aus der Optik der Korruption des Menschen durch das Privateigentum. Dass Fromm die Beziehung des Menschen für wichtiger hält als die Eigentumsordnung, zeigt etwa die folgende Passage aus Die Revolution der Hoffnung (1968a):

"Für den modernen Menschen ist die Idee des Privateigentums zu etwas Heıligem geworden, das mehr oder weniger mit Freiheit und persönlicher Identität gleichgesetzt wird. Wer einem Menschen sein Eigentum nimmt, vernichtet ihn damit als Individuum. Das ist vor allem deshalb der Fall, weil in einem System, das nicht das Sein, sondern das Haben als wesentlich betrachtet, der Mensch auch vor allem aufgrund des Eigentums, das er besitzt oder kontrolliert, als Selbst erfährt." (1968a, GA IV: 376)

Der Mensch wird zu einem Stück Eigentum, in das er Energie und Geld investiert hat, um daraus den maximalen Profit herauszuschlagen, was in unserer Zeit gleichbedeutend ist mit "erfolgreich sein".

"Eine solche Heiligung des Privateigentums ist zwar paradox und absurd, wenn man bedenkt, dass nur sehr wenige Menschen Eigentum an Produktionsmitteln haben und dass der persönliche Besitz von Konsumgütern wie Autos, Möbeln usw. von der Sozialisıerung der Produktionsmittel überhaupt nicht betroffen wäre. Aber diese lrratíonaliität ist nicht grösser als in vielen anderen Fallen, in denen eine Institution zum religiösen Symbol erhoben wurde. Und als Ergebnis widersetzt sich die Mehrheit der Menschen eben aufs heftigste einer Sozialisierung der Produktıonsmittel, obwohl sie gar nichts davon besitzt. Deshalb stösst eine gesetzliche Enteignung (auch bei einer Entschädigung) auf einen so heftigen Widerstand, dass sie unmöglich durchzusetzen wäre, es sei denn durch eine Revolution.

   Zunächst wirkt die alleinige Konzentration auf die Fragen des Eigentumsrechte etwas altmodisch, sie passt besser ins 19. Jahrhundert als in unsere Zeit. Denn zur Erreichung jenes radikalen Wandels, der zu einer Humanisierung der Technik führt, gibt es noch andere Wege, die nicht auf so heftige Proteste stossen müssen." (ebd.; meine Hervorh.)

Die Hinweise Fromms auf die negative Bedeutung des Privateigentums als solches sind derart beiläufig und mit andern Faktoren verwoben, dass sein Denken unmöglich von diesem Gesichtspunkt aus gültig ausgeleuchtet werden kann. Der Zusammenhang von Privateigentum oder Besitz mit dem "Haben" scheint mir nicht so eng zu sein. Eher handelt es sich um eine Analogie als um eine Synonymie. Während Besitz und Eigentum objektive, juristisch erfassbare Strukturen bilden, ist das Haben bei Fromm viel eher ein psychisches Syndrom, eine Art der Bezogenheit, ein innerseelisches Ereignis. Und dieser Lebensbereich ist Fromms wirklich zentrales Anliegen.

Zu ergänzen bleibt, dass in Fromms Sicht kein Gott das Manna verteilt: Die benötigten Nahrungsmittel werden von den Menschen selbst in solidarischer Gemeinschaft bereitgestellt, und es ist für alle genug da, wenn sich keiner Privilegien anmasst oder das Ergebnis der Arbeit für sich hortet. Mangel ist hingegen die Folge ungerechter Verteilung – ein höchst aktueller Gedanke!

Im Zusammenhang mit Künzlis Diskussion des biblischen Exodus durch die Wüste ist tatsachlich zu überlegen, inwiefern Fromms ethische Postulate nicht die universalisierte Form einer spezifischen Nomadenethik darstellen. Wird hier nicht eine Lebensweise, die für ein nichtsesshaftes Volk in historischer Zeit Ausdruck unmittelbarer Lebensnotwendigkeit gewesen ist, bei Fromm übertragen auf etablierte, hochtechnisierte Gesellschaften mit völlig unterschiedlichen Lebensweisen, Produktionsformen und -mitteln? Denn wer als Nomade durch Wüsten und Steppen zieht, wird wenig versucht sein, Güter anzuhäufen, die er entweder mitschleppen oder anderen zur Aufbewahrung überlassen muss und somit für längere Zeit aus den Augen verliert. Heute, da die "sesshafte", etablierte Zivilisation aus einer ganzen Reihe von Gründen am Rande ihres Bankrottes steht, ist die Sehnsucht nach einer ökonomisch wie ökologisch angepassten Lebensweise mit entsprechender Ethik nicht nur verständlich, sondern muss als heilsam, wenn nicht sogar als heilbringend erscheinen. Bei Fromm wird dieses historisch geformte Ethos aber ins Naturale gewendet und als dem "Menschen" innewohnender biophiler Kern interpretiert, was ich als höchst problematisch betrachte, ja als Hypostasierung ablehne, auch wenn die von Fromm propagierten Wertvorstellungen meine völlige Zustimmung finden. Nicht im politischen Gehalt, sondern in der philosophischen Begründung liegt für mich der Haken. [157]

Gegen Künzlis Perspektive, die sich aus dem Ansatz seines Buches ergibt, jedoch im Zusammenhang mit Fromm etwas einseitig wirkt, möchte ich einwenden, dass das Privateigentum (an den Produktionsmitteln) bei Fromm nicht die wahre und einzige Ursache für den ganzen Komplex der menschlichen Entfremdung ist, sondern eher die Begleiterscheinung für ein historisch notwendiges, dem Frommschen Gedanken der Entelechie entsprechendes Stadium, nämlich des Patriarchats, in welchem sich das Privateigentum (neben andern Faktoren wie Arbeitsteilung, Hierarchie, Konkurrenzgeist usw.) herausbildet und in der modernen Gesellschaft eine Virulenz entwickelt, die alle anderen Formen der Entfremdung überdeckt. Entfremdung gibt es aber auch ohne Privateigentum, wie das Beispiel der Staaten des "Realsozialismus" so deutlich zeigt. Entfremdung gab es auch schon zu matriarchalischen Zeiten, nach Fromm also in einem der Herausbildung von Privateigentum vorangehenden Stadium der menschlichen Selbstschöpfung. Die Abschaffung des Privateigentums ist bei Fromm dann auch nur die notwendige. aber nicht hinreichende Bedingung für die Überwindung der Entfremdung in der kapitalistischen Phase der Menschheit.

Künzlis Beschreibung einer "guten Substanz" der ursprünglichen Gesellschaft kann ich bei Fromm nicht entdecken. Diese "gute Substanz" liegt meines Erachtens nicht im Sozialen, sondern im Individuellen, in der Potenzialität des einzelnen Menschen.

Sicher ist es richtig, im Goldenen Kalb das Privateigentum zu sehen. Doch hier würde ich wiederum einwenden. dass beim modernen Menschen auch andere historische Erscheinungsformen der Konsum, die Verherrlichung der Technik, der Konformismus und anderes mehr – den Gedanken der Vergötterung des Goldenen Kalbes verkörpern. Fromms Konzept ist aber noch weit umfassender. Es beinhaltet ebenso die Verdinglichung der menschlichen Kräfte, die Unterwerfung des Lebendigen unter das Tote, der Gegenwart unter die Vergangenheit, der schöpferischen Kraft unter die erstarrte Struktur – und all dies steckt auch in seiner Verkürzung auf eine geradezu "manichäisch" anmutende Alternative zwischen Sein oder Haben. [158]

Und gewiss nimmt Fromm den alttestamentlichen Gedanken, die tiefste Hoffnung des jüdischen Volkes, in Form eines für alle Menschen zu allen Zeiten für gültig erklärten Leitbildes auf, "dass der Exodus der Menschheit aus dem Haben sie schliesslich doch noch ins Gelobte Land des Seins und eines nie endenden Sabbats der Ruhe, des Friedens, der Freude und der Einheit führen werde" (ebd.: 599), wie Künzli schreibt.

 

d) Zur Kritik von Herbert Marcuse

Die Kontroverse zwischen Fromm und Marcuse ist in der Geisteswissenschaft berühmt geworden. Sie geht zurück auf Marcuses Kritik des Neo-Freudianischen Revisionismus (1955) und fand dann in mehreren Schriften ihre Fortsetzung. [159]

Marcuse ist der Ansicht, dass sich mit den fundamentalen sozialen Veränderungen der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts auch die Funktion der Psychoanalyse in der Kultur geändert habe. Der Zusammenbruch der liberalen Ära mit ihren Versprechungen und die Ausbreitung totalitärer Tendenzen kämen in der Geschichte der Psychoanalyse ebenso zum Ausdruck wie die sich ihnen entgegenstemmenden Tendenzen.

"Während der zwanzig Jahre vor dem Ersten Weltkrieg hat die Psychoanalyse die Begriffe für die psychologische Kritik der am höchsten bewerteten Errungenschaft der modernen Zeit erarbeitet: des Individuums. Freud wies nach, dass Hemmung, Verdrängung und Triebverzicht der Stoff sind, aus dem die 'freie Persönlichkeit' gemacht ist; er erkannte, dass das 'allgemeine Elend' der Gesellschaft die unüberschreitbare Grenze ist, die der Heilung und dem normalen Dasein entgegenstehen. Die Psychoanalyse war eine radikal kritische Theorie." (1980: 149)

Die revolutionären Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa hätten gezeigt, "in welchem Masse die Psychoanalyse noch der Gesellschaft verhaftet war, deren Geheimnisse sie freigelegt hatte". (ebd.) So habe sich "der psychoanalytische Begriff des Menschen in seinem Glauben an die grundsätzliche Unveränderbarkeit der menschlichen Natur" (ebd.) für viele als "reaktionär" erwiesen, weil sie die Freudsche Theorie so verstanden, als behauptete sie die Unmöglichkeit der Verwirklichung des humanitären Sozialismus, was den Erneuerern der Psychoanalyse Auftrieb gegeben habe. Der "ernsthafteste Versuch, die kritische Gesellschaftstheorie zu entwickeln" (ebd.), sei in dieser Hinsicht von Wilhelm Reich ausgegangen. Dieser habe aber "die historische Dynamik der Sexualtriebe und ihre Verschmelzung mit den Destruktionsimpulsen" (ebd.: 150) vernachlässigt, so dass seine in den frühen Schriften enthaltenen kritischen soziologischen Erkenntnisse sich nicht weiterentwickelt hätten. Auf dem "rechten Flügel‘ der Psychoanalyse" habe sich "C. G. Jungs Psychologie bald zu einer verdunkelnden Pseudomythologie" (ebd.) entwickelt. Als "Zentrum des Revisionismus" sieht Marcuse die "kulturelle" oder "interpersonale" Schule. Fromm sei der Hauptvertreter dieser in den Nachkriegsjahren populärsten Form der Psychoanalyse gewesen.

"Wir wollen zu zeigen versuchen, dass sich die Psychoanalyse in diesen Schulrichtungen zu einer Ideologie wandelt: die 'Persönlichkeit' und ihre schöpferischen Fähigkeiten gelangen angesichts einer Realität zur Auferstehung, die die Bedingungen für die Persönlichkeit und ihre Erfüllung so gut wie ausgelöscht hat. Freud entdeckte das Werk der Unterdrückung und Verdrängung noch in den höchsten Werten der Kultur – die Unfreiheit und Leiden voraussetzt und zur Dauer erhebt. Die Neo-Freudianischen Schulen befürworten nun die gleichen Werte als Heilmittel gegen Unfreiheit und Leiden als Sieg über die Unterdrückung." (ebd.) [160]

Dies ergebe sich aus der Reduzierung der Rolle, die der Triebdynamik im seelischen Leben zugestanden werde.

"So gesäubert, kann die Psyche wieder durch idealistische Ethik und Religion erlöst werden: die analytische Theorie des psychischen Apparates kann als Philosophie der Seele neu aufgefasst werden." (ebd.)

Auf die Unterschiede zwischen den diversen revisionistischen Gruppen will Marcuse in seinem Aufsatz nicht eingehen, sondern sich ganz auf ihre gemeinsame theoretische Haltung konzentrieren.

"Wir entnehmen sie in destillierter Form den Arbeiten von Erich Fromm, Karen Horney und Harry Stack Sullivan." (ebd.: 156)

Die "Revisionisten" würden alle jene psychologischen Werkzeuge Freuds beiseitelassen, die mit dieser anachronistischen Neubelebung des philosophischen ldealismus unvereinbar seien – "gerade diejenigen Mittel, mit deren Hilfe Freud die explosiven, triebhaften und sozialen Wurzeln der Persönlichkeit aufdeckte". (ebd.: 151) Sekundäre Faktoren und Beziehungen aus dem Bereich der reifen Person und ihrer kulturellen Umgebung würden als primäre verstanden, um den Einfluss der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf die Persönlichkeitsbildung zu betonen.

"Wir aber glauben, dass genau das Gegenteil vor sich geht – dass der Einfluss der Gesellschaft auf die Psyche schwächer geworden ist. Während Freud, der seine Aufmerksamkeit ganz auf die Schicksale der Primärtriebe richtete, den Einfluss der Gesellschaft noch in den verborgensten Schichten der Gattung (des Genus) und des Einzelnen entdeckte, übersehen die Revisionisten, in ihrer Ausrichtung auf die verdinglichte konfektionierte Form statt auf den Ursprung der gesellschaftsformenden lnstitutionen, was diese Institutionen und Beziehungen der Persönlichkeit angetan haben, die sie doch zur Erfüllung bringen sollten. Den revisionistischen Schulmeinungen gegenübergestellt, gewinnt Freuds Theorie jetzt eine neue Bedeutung: mehr als je zuvor enthüllt sie die Tiefe ihrer kritischen Haltung und vielleicht zum ersten Mal die Tiefe jener ihrer Elemente, die die geltende Ordnung überschreiten und die Theorie der Unterdrückung mit der ihrer Abschaffung verketten." (ebd.)

Gerade in den frühen Arbeiten habe Fromm es unternommen, die Freudsche Theorie von ihrer Identifizierung mit der heutigen Gesellschaft zu befreien und die psychoanalytischen Begriffe schärfer herauszuarbeiten, um das Verhältnis von Triebstruktur und Struktur der Ökonomie aufzudecken. Er habe auch versucht, "gleichzeitig die Möglichkeit eines Fortschritts über die 'vaterzentrierte', 'auf Erwerb eingestellte' Kultur hinaus aufzuweisen" (ebd.).

So habe Fromm in der Idee einer mutterrechtlichen Kultur ein Realitätsprinzip entdeckt, das unabhängig von den Herrschaftsinteressen gewesen sei und die Befriedigung libidinöser Beziehungen unter den Menschen zum Ziel gehabt habe.

"Die Triebstruktur verlangt vielmehr nach dem Aufstieg einer freien Zivilisation auf der Grundlage der Errungenschaften der vaterzentrierten Kultur, jedoch auf Grund der Umformung ihrer Institutionen, als dass sie solch einen Aufstieg ausschlösse (...)" (ebd.: 152)

Die klare Herausarbeitung der psychoanalytischen Begriffe verschärfe ihre kritische Funktion und ihre Opposition gegen die herrschende Gesellschaftsform.

"Diese kritische soziologische Funktion der Psychoanalyse entspringt der fundamentalen Rolle der Sexualität als einer 'produktiven Kraft'; die libidinösen Ansprüche treiben den Fortschritt in Richtung auf Freiheit und weltweite Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse über das vaterzentrierte, erwerbsgerichtete Stadium hinaus voran. Dagegen muss die Schwächung der soziologischen Konzeption und besonders der Sexualtheorie zu einer Schwächung der soziologischen Kritik und zu einer Verminderung der sozialen Substanz der Psychoanalyse führen. Entgegen allem Anschein ist es eben dies, was in den kulturellen Schulen stattgefunden hat." (ebd.: 153) [161]

Dieser Prozess habe sich aus der "Verbesserung" der therapeutischen Methode Freuds in der Rezeption von Ferenczis Kritik an Freuds "neutraler" Analytikerrolle ergeben, indem das Anrecht des Patienten auf Glück und die Befreiung der Moral aus den Tabubereichen unterstützt wurde, was die Psychoanalyse in ein verhängnisvolles Dilemma geführt habe.

"Der 'Anspruch auf Glück", wenn er wirklich ernstgenommen wird, verschärft den Konflikt mit einer Gesellschaft, die nur kontrolliertes Glück zulässt, und Blossstellung der moralischen Tabus steigert diesen Konflikt zu einem Angriff auf die lebenswichtigen Schutzschichten der Gesellschaft. Das mag in einer sozialen Umgebung, in der Duldsamkeit ein wesentliches Element in den persönlichen Beziehungen darstellt, noch angehen; aber wo die Gesellschaft sich solch eine Duldsamkeit nicht mehr leisten kann, muss es die Idee einer 'Heilung' und sogar die Existenz der Psychoanalyse als solche in Gefahr bringen. Die bestätigende Haltung gegenüber den Ansprüchen auf Glück wird also nur dann möglich sein, wenn das Glück und die 'produktive Persönlichkeitsentwicklung' derart neu definiert werden, dass sie mit den geltenden Werten vereinbar sind – das heisst wenn sie internalisiert und idealisiert werden." (ebd.: 154) [162]

Eine solche Neudefinition würder aber ihrerseits "die explosiven Inhalte der psychoanalytischen Theorie" (ebd.) schwächen. In einer repressiven Gesellschaft, wie es die gegenwärtige sei, stehe das Glück und die produktive Entwicklung der Einzelnen im Gegensatz zur Gesellschaft. Propagiere man die Realisierung dieser Werte innerhalb einer solchen Gesellschaft, verwandelten sie sich selbst in repressive Momente.

Die Revisionisten verwischten die Diskrepanz zwischen Theorie und Therapie, indem sie die spekulativsten und "metaphysischsten" Konzepte (wie den Todestrieb, die Hypothese von der Urhorde, die Tötung des Urvaters und ihre Konsequenzen) stark reduzierten oder ganz wegliessen. Einige der entscheidendsten Äusserungen Freuds – etwa die Beziehung zwischen Es und Ich –, die Funktion des Unbewussten, Umfang und Bedeutung der Sexualität – würden in einer Weise neu definiert, die ihre explosive Bedeutung fast ganz aufhöben.

"Die Tiefendimensionen des Konflikts zwischen dem Einzelnen und seiner Gesellschaft, zwischen der Triebsturuktur und dem Bereich des Bewusstseins wurden verflacht. Die Psychoanalyse sollte sich wieder an der traditionellen Bewusstseinspsychologie prä-Freudscher Prägung orientieren." (ebd.: 156)

Marcuse kritisiert Fromms Verständnis von Individualität und autonomer Persönlichkeit im Sinne von schöpferischer Einmaligkeit und Daseinsfülle. Diese sind in seinen Augen immer das Privileg sehr weniger gewesen, während die Persönlichkeit der Gegenwart "zu standardisierten Reaktionsformen" neige, "die durch de Hierarchie von Macht und Funktionen und durch ihren technischen, intellektuellen und kulturellen Apparat bestimmt" (ebd.: 160) würden.

"Der Analytiker und sein Patient haben an dieser Entfremdung teil, und da sie sich gewöhnlich nicht in irgendwelchen neurotischen Symptomen, sondern eher unter dem Stempel der 'geistigen Gesundheit' manifestiert, tritt sie nicht in das revisionistische Bewusstsein ein. Wenn der Vorgang der Entfremdung zur Diskussion kommt, so wird er meistens nicht als das Ganze, das er ist, behandelt, sondern als ein negativer Aspekt des Ganzen. Natürlich ist die Persönlichkeit nicht verschwunden, sie blüht immer und wird sogar gepflegt und erzogen – aber so, dass die Ausdrücke der Persönlichkeit den sozial erwünschten Grundformen des Verhaltens und Denkens vollkommen entsprechen und ihrerseits diese Grundformen unterstützen. Die Individualität wird so allmählich annulliert." (ebd.: meine Hervorh.).

Marcuse sieht die individuellen Situationen als "Abkömmlinge und Erscheinungen des allgemeinen Schicksals" (ebd.); Freud habe aufgezeigt, dass das Letztere den Schlüssel für die Bestimmung des Individuums enthalte. So forme die allgemeine Unterdrückungstendenz das Individuum und mache sogar seine persönlichsten Züge zum Allgemeingut.

"Dementsprechend orientiert sich Freuds Theorie konsequent an der frühen Kindheit – der Periode, in der dem Einzelnen das allgemeine Schicksal aufgeprägt wird. Die späteren reifen Beziehungen 'wiederholen' die formativen Beziehungen. Die entscheidenden Beziehungen sind damit diejenigen, die am wenigsten 'zwischenmenschlich' sind. In einer entfremdeten Welt stehen Exemplare der Gattung einander gegenüber: erst Eltern und Kinder, Männer und Frauen, dann Herr und Knecht, Chef und Angestellter. Sie treten zuerst einmal in den spezifischen Formen der universellen Entfremdung miteinander in Beziehung." (ebd.: 161)

Selbst wenn sich diese Formen änderten und zu wirklich persönlichen Beziehungen entwickelten, behielten sie ihre "universelle Repressivität" bei. Die Psychoanalyse vermöge die universelle Erfahrung in der individuellen zu erhellen und könne so und nur so die Verdinglichung, die Versteinerung der menschlichen Beziehungen auflösen.

"Die Revisionisten verkennen den tatsächlichen Zustand der Entfremdung (oder sie versäumen es, die Konsequenz daraus zu ziehen), der die Person zu einer vertauschbaren Funktion und die Persönlichkeit zu einer Ideologie macht. Im Gegensatz dazu reichen Freuds 'biologische' Grundauffassungen über die Ideologie und ihre Spiegelungen hinaus: seine Weigerung, eine verdinglichte Gesellschaft als ein 'sich entwickelndes Netzwerk zwischenmenschlicher Erfahrungen und Verhaltensweisen' und ein entfremdetes Individuum als eine 'Gesamtpersönlichkeit' zu behandeln, entspricht der Realität und enthält ihren wirklichen Begriff. Wenn er sich nicht darauf einlässt, die unmenschliche Existenz als einen vorübergehenden, negativen Aspekt der sich voranbewegenden Menschheit anzusehen, dann ist er menschlicher als die gutmütigen, duldsamen Kritiker, die seine 'unmenschliche' Kälte brandmarken. Freud glaubt nicht bereitwillig daran, dass die Grundrichtung des Organismus vorwärts' ist." (ebd.; meine Hervorh.)

Wenn Fromm als therapeutisches Ziel die 'optimale Entwicklung der inneren Fähigkeiten einer Person und die Verwirklichung ihrer Individualität'" (ebd.: 164) sähe, so sei gerade dieses Ziel grundsätzlich nicht erreichbar –

" (…) nicht etwa wegen bestimmter Grenzen der analytischen Technik, sondern weil die herrschende Kultur eben ihrer Struktur nach dies unmöglich macht." (ebd.)

Denn entweder würde man unter der Verwirklichung der "Persönlichkeit" und "Individualität" die Möglichkeiten innerhalb der gegebenen Kulturform meinen, was für die überwiegende Mehrheit mit erfolgreicher Anpassung identisch wäre, oder sie in einem transzendenten Sinn interpretieren, "inklusive ihrer ihnen von der Gesellschaft versagten Möglichkeiten jenseits (und unterhalb) ihrer aktuellen Existenz" (ebd.); dann aber würde man den Patienten in dem Sinne heilen, dass man ihn als Rebell oder Märtyrer in die Gesellschaft entlasse.

"Die revisionistische Auffassung schwankt zwischen den beiden Definitionen. Fromm ruft all die altehrwürdigen Werte der idealistischen Ethik wieder ins Leben, als hätte noch nie jemand ihre konformistischen und repressiven Züge aufgewiesen. Er spricht von der produktiven Verwirklichung der Persönlichkeit, von Fürsorge, Verantwortung und Respekt vor den Mitmenschen, von produktiver Liebe und Glück, als könnte der Mensch tatsächlich all das in einer Gesellschaft ausüben, die Fromm selbst als völlig 'entfremdet' und von den Konsum-Beziehungen des 'Markts' beherrscht darstellt und dabei geistig gesund und voller 'Wohlgefühl' bleiben." (ebd.: 164f.)

"Selbstverwirklichung der Persönlichkeit" könne in einer solchen Gesellschaft nur durch Unterdrückung und Verdrängung zustande kommen: durch die Internalisierung von Glück und Freiheit und durch vernunftgelenkte Einschränkung, bis sie sich mit der allgemein anerkannten Unfreiheit und dem "herrschenden Unglück" in Einklang bringen lasse.

"lm Ergebnis werden Produktivität, Liebe, Verantwortung nur insoweit zu 'Werten', als sie lenkbare Resignation enthalten und innerhalb des Rahmens sozial nützlicher Betätigung ausgeübt werden (mit anderen Worten: nur nach ihrer repressiven Sublimierung). Und dann bedeuten sie die erfolgreiche Verleugnung der freien Produktivität und der freien Verantwortung – den Verzicht auf Glück." (ebd.: 165) [163]

Die Verwendung von Ausdrücken wie "Produktivität" und "Liebe" durch die Revisionisten spreche gleichzeitig die verkümmerten und die integralen Möglichkeiten des Menschen an und setze ein Versprechen in die Welt, "das doch nur jenseits dieses Realitätsprinzips eingelöst werden könnte" (ebd).

"In den mehr weltanschaulich orientierten Schriften der Revisionisten nähert sich der Stil häufig dem eines Predigers oder Sozialfürsorgers; gehoben und doch klar, durchdrungen von Güte und Duldsamkeit und doch bewegt von einem esprit de serieux, der transzendentale Werte zu alltäglichen Tatsachen macht. Was Trug und Schein geworden ist, wird als wirklich angenommen." (ebd.: 165f.)

Nicht Fromms Werte hält Marcuse für unecht, sondern den Zusammenhang, in welchem sie definiert und proklamiert würden: "die 'innere Kraft' hat einen Beigeschmack jener bedingungslosen Freiheit, die man auch in Ketten ausüben kann und die Fromm selbst einmal in seiner Analyse der Reformation blossstellte" (ebd.: 167).

"Sollen die Werte der 'inneren Kraft und Integrität' mehr sein als blosse Charakterzüge, die die entfremdete Gesellschaft von jedem guten Bürger in seinem Geschäft erwartet (in welchem Fall sie nur dazu dienen, die Entfremdung zu fördern), dann müssen sie zu einem Bewusstsein gehören, das die Entfremdung durchbrochen hat. Aber solch einem Bewusstsein werden diese Werte selbst unerträglich, da es sie als mitschuldig an der Versklavung des Menschen erkennt. Das 'höhere Selbst' regiert über die domestizierten lmpulse und Strebungen des Individuums, das sein 'niedrigeres Selbst' geopfert und preisgegeben hat, nicht nur so weit es unvereinbar mit der Kultur, sondern so weit es unvereinbar mit der repressiven Kultur ist." (ebd.: 167f.)

Ein solcher Schritt könne auf dem Weg des menschlichen Fortschritts nötig sein. Mit Freud müsse aber die Frage gestellt werden, ob der Einzelne für solche höheren Werte nicht einen zu grossen Preis bezahle. Solche Überlegungen sollten die "psychoanalytischen Philosophen" davon abhalten, "diese Werte zu predigen, ohne ihren verbotenen Inhalt zu enthüllen, ohne zu zeigen, was sie dem Einzelnen verweigert haben." (ebd.: 168)

Statt die Konflikte in der Gesellschaft zu analysieren, würde Fromm sie in die Seele des Menschen verlegen und dort nach ihrem Ausgleich in einem 'höheren Selbst' suchen, wodurch er die sozialen Konflikte vorrangig zu einem geistigen Anliegen und ihre Lösung zu einer moralischen Aufgabe erkläre.

" (...) die entscheidenden Kämpfe werden in der 'Seele' des Menschen ausgefochten. Die heutige autoritäre Position und die 'Vergöttlichung der Maschine und des Erfolgs' bedrohen die 'kostbarsten geistigen Besitztümer des Menschen'." (ebd.: 169)

Die Betonung, die von den Revisionisten auf den Einfluss der "sozialen Bedingungen" in Bezug auf die neurotische Persönlichkeit gelegt werde, sei daher soziologisch und psychologisch viel inkonsequenter als Freuds "Vernachlässigung" dieser Bedingungen. Nachdem die Disharmonie zwischen Gesellschaft und Individuum festgestellt worden sei, blendeten die Revisionisten sie weitgehend wieder aus. Marcuse betrachtet denn auch die Revision der psychoanalytischen Theorie als eine Flucht aus der Analyse in verinnerlichte Ethik und Religiosität.

"Wenn die 'Wunde' in der menschlichen Existenz sich nicht in der biologischen Konstitution des Menschen auswirkt, und wenn sie nicht gerade durch die Struktur der Gesellschaft verursacht und durch sie fortdauernd erneuert wird, dann geht die Psychoanalyse ihrer Tiefendimension verlustig, und der (ontogenetische und phylogenetische) Konflikt zwischen vorindividuellen und überindividuellen Kräften erscheint als ein Problem des vernünftigen oder unvernünftigen, des moralischen oder unmoralischen Verhaltens des bewussten Individuums." (ebd.: 171)

Aus der Verstümmelung der Freudschen Triebtheorie folge die Umkehrung seiner Theorie, deren innere Richtung vom Es zum Ich, vom Bewussten zum Unbewussten, von der Persönlichkeit zur Kindheit verlaufe.

"Die Theorie bewegte sich von der Oberfläche in die Tiefe, von der 'fertigen' und gegrägten Person zu ihren Quellen und Hilfsmitteln. Diese Bewegung war für Freuds Kulturkritik wesentlich: nur mit Hilfe der 'Regression' hinter die irreführenden Formen des reifen Individuums und seines privaten und öffentlichen Daseins entdeckte er die grundlegende Negativität in den Fundamenten, auf denen sie ruhen. Darüber hinaus konnte Freud den explosiven Inhalt der irreführenden Formen und damit den vollen Umfang der kulturellen Unterdrückung nur dadurch erhellen, dass er seine kritische Regression bis hinunter zu den tiefsten biologischen Schichten vorantrieb. Die Energie der Lebenstriebe mit der Libido gleichzusetzen hiess, ihre Befriedigung im Gegensatz zum spirituellen Transzendentalismus zu definieren. Freuds Auffassung von Glück und Freiheit ist eminent kritisch, insofern sie materialistisch ist – sie protestiert gegen die Vergeistigung der Not." (ebd.: 176)

In der Verkehrung von Freuds Grundrichtung legten die Neofreudianer den Akzent vom Organismus auf die Persönlichkeit, und ihre Revisionsvorschläge seien dann logisch stichhaltig; einer zöge den andern nach sich. In der Unterbewertung der biologischen Faktoren würde für sie "die Persönlichkeit im Sinne objektiver kultureller Werte definierbar, getrennt vom repressiven Grund, der ihre Realisierung verhindert" (ebd.: 176).

"Um diese Werte als Freiheit und Erfüllung darstellen zu können, müssen sie von dem Material gereinigt werden, aus dem sie gemacht sind, und der Kampf um ihre Verwirklichung muss in einen geistigen und moralischen Kampf umgewandelt werden." (ebd.: 176f.)

Freud dagegen beharre auf dem unabänderlichen Wahrheitsgehalt der Triebbedürfnisse, die erst "gebrochen" werden müssen, damit das menschliche Wesen in sozialen Beziehungen funktionieren kann. [164]

 

Persönliche Bewertung

Ich habe die Kritik Marcuses an Fromm in einer gewissen Ausführlichkeit dargestellt, weil der Themenkreis der Freud-Revision durch Fromm in meiner Arbeit bisher kaum zur Sprache kam. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, in welcher Weise die Kritik an Fromm von einer Position ausgeführt wird, die an der Trieblehre von Freud und an seiner impliziten Gesellschaftskritik festhält, wie das Marcuse tut.

Letztlich ist es eine Frage des Menschenbildes und der persönlichen Wertvorstellungen, ob man die Libidolehre Freuds annimmt oder zurückweist. Ich bin nicht der Meinung, dass Fromm in seiner Revision zu entscheidend neuen Erkenntnissen gelangt ist, die die Verwerfung dieser Triebtheorie wirklich rechtfertigten, auch wenn ich selbst bestimmten Elementen der klassischen Psychoanalyse distanziert gegenüberstehe oder sie gar zutiefst ablehne (etwa die Naturalisierung der weiblichen Sexualität, die zu stark biologisch und zu wenig soziologisch gefasste psychosexuelle Entwicklung des Kindes, die Universalisierung des Ödipuskomplexes oder die Hypothese eines der Libido entgegengestellten Todestriebes). Es ist jedoch offensichtlich, dass in Fromms Schriften die biologischen Aspekte des Menschen zugunsten der kulturellen zu stark in den Hintergrund rücken.

Um zu Marcuse zurückzukehren: Die summarische Kritik an Fromm, Sullivan und Horney ist trotz gelegentlicher nuancierender Hinweise auf einzelne Repräsentanten der "kulturalistischen Schule" unangemessen. Die Gemeinsamkeiten hinter diesem Etikett sind zu gering, als dass sich eine solch pauschale Beurteilung rechtfertigen liesse.

Was das zentrale Thema dieser Arbeit betrifft, so fällt auf, dass Marcuse von Entfremdung nur im innerseelischen Bereich spricht, sie als Entfremdung einer Person von sich selbst (und indirekt jene von den Mitmenschen) behandelt. Fromms dialektisches Geschichtsverständnis wird von Marcuse nicht thematisiert, obwohl es, wie ich meine, über viele Kritikpunkte Aufschluss gäbe. Ich glaube, dass Fromm die Freudsche Triebtheorie eben aus diesem Grund revidierte, weil er ein neues, dem Menschen innewohnendes Prinzip, das in der Wechselwirkung mit den geschichtlichen Bedingungen wirkt, ein ganz bestimmtes Verständnis von Entelechie in der seelischen Tiefenschicht entdeckt zu haben glaubt, in deren Zentrum die oft zitierten Wachstumskräfte von "Vernunft", "Hoffnung", "Wahrheit", "Liebe" stehen.

In dieser Konzeption kehrt sich konsequenterweise die Richtung der seelischen Differenzierungen um. Das bei Freud genetisch Späte wird zu Fromms erstem Prinzip: Indem das Es zur Quelle von Idealen und positiver Lebensentwicklung umgedeutet wird (also indem im orthodoxen Verständnis Elemente des Über-Ichs ins Unbewusste verlegt werden), geht nun die psychische Entwicklung nicht mehr vom Es über das Ich zum Über-Ich. lm Gegenteil, die menschliche Entwicklung wird nun gesehen als Interaktion zwischen einem allen Menschen eigenen Ideal-Ich, das die humanistischen Werte (Vervollkommnung, Erlösung, Erleuchtung, Einheit und Harmonie) umfasst, und den sozioökonomischen Lebensbedingungen einer bestimmten Sozietät in einer bestimmten Epoche, in welcher sich kulturspezifische, historische Werte herausbilden, die mit den erstgenannten in Konflikt stehen und erst in einer utopischen Zukunftsgesellschaft in wirklichen Einklang gebracht werden können.

Fromm war davon überzeugt, dass Marx diesen humanistischen Werten zum Durchbruch verhelfen wollte. Deshalb verstand er ihn als "religiösen" Denker, eine These, die ich letzten Endes für nicht vertretbar halte, auch wenn tiefenpsychologische Elemente der Motivation aus der Biografie von Marx miteinbezogen werden.

Hingegen unterschätzt Marcuse meiner Meinung nach die psychischen Kräfte der Regeneration und ihr Vermögen zur Abwehr schädigender sozialer Einflüsse. Ich bin überzeugt, dass dem Menschen beträchtliche Kräfte eigen sind, sich gegen deformierende Einflüsse zu immunisieren. Das setzt allerdings voraus, dass diese nicht schon die frühen Lebensjahre prägen oder durch besonders traumatische Umstände die Fähigkeit zur seelischen Wiederherstellung tiefgreifend oder gar irreduktibel schädigen.

Es ist Fromm sicher auch hoch anzurechnen, dass er die kulturelle Bedingtheit der Psychoanalyse und gewisse autokratische Züge ihres Begründers aufgezeigt hat, auch wenn seine Kritik ad personam oft von unverständlicher Härte ist. Zweifellos enthält auch die klassische Psychoanalyse gewisse systemstabilisierende und repressive Züge, die dem Weltbild der bürgerlichen Gesellschaft um die Jahrhundertwende entsprechen. Aus dieser Sicht hat Marcuses Kritik an Fromm oft einen unnötig polemischen Anstrich. [165]

lch zweifle stark daran, ob Freuds naturalistisches Triebkonzept wirklich als gesellschaftlich progressives Moment gefeiert werden kann, denn eine solche Interpretation setzt wiederum eine kritische Brechung der Freudschen Grundintensionen und damit eine weitere prinzipielle Revision voraus. Ob es danach noch gerechtfertigt ist, sich auf den "authentischen Freud" zu berufen, ist fraglich.

 

e) Zur Kritik von Hermann May

Der Heidelberger Professor Hermann May geht in seinem Buch Arbeitsteilung als Entfremdungssituation in der lndustriegesellschaft von mile Durkheim bis heute [166] ausführlich auf Fromms Verständnis von Entfremdung ein:

"Entfremdung als psycho- und sozialpathologisches Phänomen repräsentiert für Erich Fromm (…) das zentrale Problem industrieller Gesellschaften. Er versteht sie als eine persönliche Erfahrung, in der sich das Individuum selbst als Problem erlebt. So empfunden offenbart sie sich als 'Krankheit' der Gesellschaft. Dieses gesellschaftliche Leiden erkennt Fromm als Ausdruck des Leidens an der Gesellschaft." (1985: 139)

In der industriellen Arbeit wird der Arbeiter zu einem Produktionsfaktor verdinglicht; er steht in einem Verhältnis der Abhängigkeit zur Maschine und unterwirft sich dieser als einer irrationalen Autorität. Aus einer ursprünglich befriedigenden und erfreulichen Betätigung wird Arbeit zu Pflicht und Zwang.

"lm Zuge fortschreitender Segmentierung verkümmerte sie nach Frommscher Einschätzung zur isolierten Teilfunktion. Sie ist zur blossen Tätigkeit verkommen, deren Ergebnis in einem für den Arbeiter selbst oft nicht überschaubaren Produkt untergeht, mit dem ihn nichts mehr verbindet." (ebd.: 139f.)

Fromm erscheine die Überwindung der Entfremdung grundsätzlich möglich, die Krankheit der Gesellschaft stelle sich nicht als irreversibles Schicksal dar. Die Umkehr erfordere aber eine völlige Veränderung der ökonomisch-gesellschaftlichen Verhältnisse und zugleich die geistige Befreiung des Menschen.

"Gleich Marx erkennt Fromm die Sozialisierung der Produktionsmittel als eine Bedingung zur Überwindung der Entfremdung; entgegen dessen Einschätzung jedoch nicht als eine hinreichende. Der Wandel der sozioökonomischen Verhältnisse muss nach seinem Verständnis mit einer geistigen Neuorientierung des Menschen einhergehen. Der kommunitäre Sozialismus vereint für ihn diese Erfordernisse." (ebd.: 140)

May sieht FromMs Entfremdungsbegriff als eine Kombination der Marxschen und Hegelschen Begriffsinhalte, verbunden mit einer geschichtsphilosophischen Deutung des Menschen und dessen Natur. Entfremdung sei ein subjektives Phänomen, das als "Widerspruch zwischen bestimmten Ansprüchen des Individuums an seine Arbeit und der Arbeitssituation selbst ausgelöst" (ebd.: 143) werde.

"Da nun für Erich Fromm die Geschichte des Menschen ihren Anfang in einem Bruch des sich durch bestimmte Qualitäten ausweisenden Menschen mit der Natur nimmt und ihre Vollendung in einer 'neuen Einheit' dieses Menschen mit der Natur, seinen Mitmenschen und sich selbst auf einer höheren Bewusstseinsebene sucht, wird dieser Erfahrungsprozess 'Entfremdung' für den Menschen als notwendige Entwicklungsphase erkannt. Mit der Reaktion des Menschen auf diese Entfremdung mündet der Erfahrungsprozess in einen Scheideweg. Führt die Entfremdung den Menschen zur vollen Entfaltung seiner Möglichkeiten, dann ist diese Reaktion nach Fromm als produktiv zu qualifizieren. Für ihre Hervorbringung war Entfremdung eine positive Notwendigkeit. Reagiert der Mensch auf seine entfremdete Situation jedoch pathologisch, das heisst regressiv, indem er wieder die ursprüngliche Einheit Mensch–Natur anstrebt, dann ist seine Entfremdung eine nicht notwendige, negative." (ebd.: 142)

Fromms Entfremdungskonzept reflektiere eine Dichotomie von individuellen Bedürfnissen und sozialer Wirklichkeit und sei damit "gesellschaftsinduziert". Fromm unterscheide zwischen existenziellen und historischen Widersprüchen, und erst diese Differenzierung mache dem Menschen deutlich, "wo seine Einflussnahme, sein Lösungsverhalten, gefordert ist und wo sich seine Möglichkeiten in der produktiven Reaktion, und damit in der Vermeidung der Regression, erschöpfen" (ebd.: 148).

In der menschlichen Bedürfnislehre orientiere sich Fromm dann wieder an Marx.

"Als menschliche Bedürfnisse markieren sie (die 'existenziellen Bedürfnisse', U. A.) für ihn den Gegensatz zu den 'unmenschlichen' Scheinbedürfnissen, die ganz im Marx'schen Verständnis dem Menschen suggeriert werden, um ihn durch weitere (konsum)ökonomische Abhängigkeiten zu neuen Opfern zu verleiten und damit von seinen wahren Bedürfnissen abzulenken respektive zu entfremden." (ebd.)

lm Kampf gegen die Entfremdung entwickle der Mensch seine produktiven Kräfte, was unter den Bedingungen des modernen Kapitalismus besonders schwierig sei.

"Die ökonomischen Verhältnisse industrieller Gesellschaften, insbesondere ihre durch Quantifizierung und Abstraktion gekennzeichneten Produktionsverhâltnisse, bedingen in Froms gesellschaftstheoretischem Verständnis einen Gesellschafts-Charakter, der den Menschen in seinen Grundbedürfnissen weitgehend unbeachtet lässt und dadurch diesen entfremdet. Der Gesellschafts-Charakter, das heisst die typische psychische Struktur der Mitglieder dieser Gesellschaften, ist damit durch Entfremdung charakterisiert." (ebd.: 155)

Fromm sehe die Wurzeln der Entfremdung wie Marx in der Arbeitsteilung, "wo sich die Zivilisation über die Zustände der primitiven Gesellschaft erhebt" (ebd.: 156). Mit der zunehmenden Arbeitsteilung habe sich die Entfremdung aber auch über den Arbeitsbereich hinaus in jenen des Konsums und der Freizeitgestaltung ausgedehnt.

"Gleich Marx deduziert Fromm die sozialpathologischen Zustände aus den sozioökonomischen Verhältnissen, begibt sich aber über diese Feststellung direkt in die Individualsphäre, um hier den Zustand der Entfremdung im persönlichen Erleben des Betroffenen zu erfassen. Das soziologische Interesse an den gesellschaftlichen Zuständen dient damit allein noch dem Zweck, diese als Hindernisse für die produktive Entfaltung des Menschen zu dekuvrieren. Eine überzeugende Verbindung der psychischen und sozialen, das heisst der psycho- und sozialpathologischen Phänomene, gelingt unseres Erachtens dabei jedoch nicht. Aus menschlichem Tätigwerden erwachsende soziale Phänomene dürfen nämlich nach unserem Verständnis nicht primär als Niederschlag einer Summe individuell bestimmter Akte interpretiert werden, sondern sind vielmehr von der umfassenden gesellschaftlichen Eingebundenheit der Handelnden her zu begreifen." (ebd.: 168)


Persönliche Bewertung

Mays Darstellung wird meiner Ansicht nach dem Frommschen Entfremdungskonzept in besonderem Masse gerecht. Vor allem ist er einer der ganz wenigen Kommentatoren, die in der Lage sind, die positiven wie auch die negativen Momente von Entfremdung in Fromms Geschichtsverständnis wahrzunehmen.

Allerdings glaube ich nicht, dass "Entfremdung" für Fromm nur ein subjektives Phänomen ist. Er sieht diese vielmehr am Schnittpunkt von subjektiver Erfahrung und objektivem Sachverhalt und hält sie mit den Mitteln der von ihm begründeten "Humanistischen Psychoanalyse" für aufweisbar. Zum Beispiel besagt eine subjektive Empfindung von Zufriedenheit und Nicht-Entfremdetheit keineswegs, dass die betreffende Person nicht doch in einer tieferen seelischen Schicht entfremdet ist. Über einem Zustand grundsätzlicher Leere und Unerfülltheit kann durchaus eine dünne Schicht von momentaner Zufriedenheit liegen, die etwa durch Konsum, oberflächliches Amüsement oder billig gewonnenen sozialen Erfolg hervorgerufen wird. Fromm genügt dies aber nicht; er fragt tiefer nach der Einbettung dieser Erfahrung in der ganzen Lebensanlage eines Menschen und misst die bewusste Wahrnehmung an der seines Erachtens objektivierbaren Befriedigung der existenziellen Bedürfnisse.

Richtig ist die Feststellung, dass es Fromm in der ganzen Entfremdungsdiskussion wesentlich um Entfremdung als psychisches Phänomen geht. Seit der Grundlegung des psychoanalytischen Verfahrens durch Freud kann aber Psychisches nicht mehr einfach mit Subjektivem gleichgesetzt werden – im Übrigen auch nicht Nicht-Psychisches mit Objektivem. Gerade die Erhellung der Wechselwirkung von Subjekt und Objekt gehört zu Fromms Hauptanliegen. 

Unterstreichen möchte ich aber Mays zutreffende Kritik, dass Fromm vom sozioökonomischen Standpunkt aus zu sprunghaft in den individualpsvchologischen Bereich hinüberwechselt und den Sozialbereich dann vor allem unter der Perspektive seiner behindernden Auswirkungen für die Entfaltung der individuellen Möglichkeiten betrachtet. Eine überzeugendes Vermittlung der Interaktion von Psychischem und Sozialem kommt so meiner Meinung nach nicht zustande.

 

f) Zur Kritik von Richard Schacht

Die ausführlichste Beschäftigung mit dem Entfremdungsgedanken Fromms enthält Richard Schachts Buch Alienation. [167] Der Autor, Professor an der University of Illinois, weist mit einem streng logisch-analytischen Ansatz auf viele vermeintliche Widersprüche und Ungereimtheiten in Fromms Aussagen hin.

Schacht kritisiert mit Recht, dass Fromm fast immer vom Menschen im Allgemeinen und nur selten vom einzelnen Menschen oder von einer bestimmten Gruppe spricht.

"Manchmal ist es der 'moderne Mensch', den Fromm für entfremdet hält. Dann wieder scheint er zu implizieren, dass der Mensch als solcher der Entfremdung verfallen ist, besonders, wenn er von der 'Kluft' zwischen Mensch und Natur spricht. In Passagen des ersten Typs (bei Weitem der häufigste) ist keineswegs klar, von wem Fromm nun wirklich spricht. Gelegentlich vertritt er die Extremposition, dass alle entfremdet sind: 'Nicht nur die Arbeiterklasse ist entfremdet … sondern jedermann.' (...) An andern Stellen macht er glauben, diese Zuweisungen beträfen die Persönlichkeit unserer Tage; so nimmt er in Anspruch, sich mit der 'Charakterstruktur des Durchschnittsmenschen' zu beschäftigen. Aber auch dieser Begriff ist nebelhaft – dies umso mehr, als Fromm sich auf allgemeine Eindrücke abstützt bei dem, was dem Durchschnitt entspricht oder was typisch ist und was nicht. Das hat zur Folge, dass seine Darlegungen, wer als 'entfremdet' zu gelten hat und wovon er 'entfremdet ist, oft unbestimmt sind." (1971: 125, meine Übers.) [168]

Fromm habe in seinem Selbstverständnis an Marx' Entfremdungskonzept angeknüpft, dieses allerdings noch erweitert und nachgewiesen, dass "Entfremdung" heute zu einem viel umfassenderen Problem geworden sei, als Marx sich dies damals vorstellen konnte.

"Indem er seine Aufgabe darin sieht, die Marxschen Einsichten auf die Entfremdung des modernen Menschen auszuweiten, bringt Fronm diesen Begriff praktisch mit jedem Lebensbereich der Gegenwart in Verbindung." (ebd.: 126: meine Übers.) [169]

Fromm befasse sich intensiv mit der Beziehung des Menschen zur "Natur". Aber er präzisiere nie, was er mit diesem Begriff genau meine, im Gegenteil, er setze ihn als etwas Selbstverständliches voraus, wobei er an verschiedenen Stellen jeweils etwas anderes darunter verstehe:

"Manchmal scheint sich 'Natur' auf das Leben auf einem rein körperlichen Niveau zu beziehen. Hier ist der Mensch 'eins' mit ihr, wenn er ganz passiv davon durchdrungen ist. An andern Stellen scheint sie etwas wie die natürliche Umgebung des Menschen zu bezeichnen; dann wird davon gesprochen, dass man in Einheit mit ihr lebt, wenn man in völligem funktionellem Einklang mit ihr lebt. Und dann wieder scheint er sich auf den Bereich der Körperobjekte zu beziehen, mit deren Einheit wahrscheinlich das Fehlen von etwas, das sich von diesen Objekten unterscheidet, gemeint ist. Fromm realisiert diese Differenzen nicht. Er redet einfach jedesmal von 'Natur'." (ebd.; meine Übers.) [170]

Fromm sei nicht konsequent hinsichtlich des Ursprungs dieser Trennung zwischen Mensch und Natur und dementsprechend auch nicht hinsichtlich der Frage ihrer Unvermeidlichkeit. Manchmal scheine er anzutönen, dass diese Trennung einfach mit dem Auftauchen des menschlichen Selbstbewusstseins verbunden sei. Dann spreche er davon, dass der Mensch aus der Natur "herausgerissen" sei, worauf er dann seine eigenen Kräfte entfalte. Als Begleiterscheinung der Vernunft entwickle sie sich automatisch, und die Trennung von der Natur sei etwas, das Mensch nicht überwinden könne. Das lege dann den Gedanken nahe, die Entfremdung des Menschen von der Natur sei ganz unvermeidlich und mache sein unentrinnbares Schicksal aus.

"In andern Passagen weist Fromm dem Ursprung der menschlichen Entfremdung von der Natur einen ganz anderen Ort zu: '(Der Mensch) erfindet Werkzeuge und löst sich durch ihren Gebrauch mehr und mehr von ihr ab.' (...) Hier wird die Trennung des Menschen von der Natur gleichzeitig mit der menschlichen Errungenschaft ihrer Bemeisterung verstanden – etwas von der Ausbildung des Selbstbewusstseins ziemlich Verschiedenes. Und wenn Fromm vom 'nicht-entfremdeten Menschen' spricht, 'der die Natur nicht beherrscht, sondern mit ihr eins wird (...)', nimmt er stillschweigend an, dass die menschliche Entfremdung von der Natur nicht unvermeidlich ist." (ebd. 127; meine Übers.) [171]

Schacht erwähnt eine Reihe von lnkonsequenzen in Fromms Vorschlägen zur Überwindung der Entfremdung von der Natur:

"Erstens: in einer Sichtweise ihrer Genese entsteht diese Entfremdung genau deshalb, weil der Mensch seine Vernunft benützt, um die Natur als 'Objekt' wahrzunehmen, das von ihm verschieden ist. So besteht das Problem nach Fromm darin, 'diese Spaltung durch die Verstandesaktivität zu überwinden'. (...) Aber er behauptet auch, dass ein Unterscheidungsmerkmal des nicht-entfremdeten Menschen darin bestehe, dass er 'seinen Verstand zur objektiven Erfassung der Realität verwendet'. (...) Mit andern Worten lässt Fromm glauben, dass die Kluft zwischen Mensch und Natur durch den gleichen Verstandesgebrauch überwunden werden kann, von dem er behauptet, dass er ihn ursprünglich erzeugt hat.

   Zweitens: ln Fromms anderer Sichtweise des Ursprungs der menschlichen Entfremdung von der Natur resultiert sie aus der menschlichen Errungenschaft und aus der Ausübung der 'Naturbeherrschung'. Wie wir gesehen haben, macht er geltend, dass eine neue Einheit mit der Natur durch 'produktive Arbeit' hergestellt werden kann. (...) Aber was bedeutet 'produktive Arbeit', wenn nicht (nach der Ausdrucksweise von Marx) das 'Formen und Bearbeiten' der Natur", was ihre Unterwerfung und Beherrschung mit sich bringt? Auch hier ist die Art der Aktivität, die als geeignet vorgestellt wird, die Entfremdung von der Natur zu überwinden, identisch mit jener, die sie entstehen lässt." (ebd.: 127f.; meine Übers.) [172]

Die Entfremdung von der Natur, welche die Herrschaft des Menschen über die Natur begleitet, ist nach Schachts Meinung eine völlig andere als jene, die aus dem Auftauchen des Selbstbewusstseins entsteht. Im ersten Fall werde der Mensch als jemand dargestellt, der eine besonders aktive Haltung der Natur gegenüber einnimmt, indem er sie unterwirft. Im zweiten Fall suggeriere Fromm hingegen die Vorstellung der Rettung vor dem völligen Untergehen in der Natur, und das Ergebnis davon sei, dass er sich als Fremder fühle. Noch eine weitere Form der Entfremdung präsentíere Fromm, wenn er davon redet, der Mensch habe die Fähigkeit verloren, sich ganz der Natur zuzuwenden. So fasst Schacht diesen Kritikpunkt zusammen:

"Kurzum, wir haben es hier mit drei verschiedenen Arten von Trennung von der 'Natur' zu tun, und weil Fromm den Begriff 'Entfremdung' in Verbindung mit allen drei Formen benützt, müssen in seinen Schriften auch drei Entfremdungsweisen von der Natur unterschieden werden." (ebd.: 128f.; meine Übers.) [173]

Auch im Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen sieht Schacht Widersprüche: Fromm beziehe sich auf jede Form von Mangel an Einheit mit andern als "Entfremdung von den andern", auch wenn diese Trennung als relativ neutral oder sogar als positiv bewertet werde.

"Und er gebraucht den Begriff 'Entfremdung' in Verbindung mit allen bedeutenderen Formen von zwischenmenschlichen Beziehungen, die er missbilligt: Mangel an Bezogenheit, egoistische Machenschaften und Konformität. Zudem neigt er, weil er jede von ihnen als ein Entfremdungselement betrachtet, zum Glauben, sie bildeten Aspekte eines einzigen Phänomens – 'des entfremdeten Sozialcharakters unserer Zeit' – dem er eine sehr unwahrscheinliche Sammlung von Qualitäten zuschreiben muss: 'Anpassung, Kooperationsbereitschaft, Aggressivität, Ehrgeiz usw.'" (ebd.: 134f.; meine Übers.) [174]

Schacht ist der Meinung, dass die Anwendung eines Begriffes wie "Entfremdung" auf so viele verschiedene Formen zwischenmenschlicher Beziehungen Verwirrung stifte und den Anschein von Analogie in ihnen erwecke, die gar nicht gegeben sei.

"Es ist denkbar, dass der Begriff 'Entfremdung' in sinnvoller Weise in diesem allgemeinen Zusammenhang verwendet werden könnte, doch nur dann, wenn sein Gebrauch dazu dient, die Differenzen zu betonen oder sie zumindest nicht zu verwischen. Die gleichen Überlegungen sind offenkundig auch auf die Verwendung des Entfremdungsbegriffes in der Diskussion um die menschliche Beziehung zur Natur anwendbar." (ebd.: 135; meine Übers.) [175]

Schacht hält fest, dass die Entfremdung des Menschen von sich selbst der wichtigste Fromsche Entfremdungsbereich ist.

Selbstentfremdung scheine eine Disparität zwischen dem "Wesen" des Menschen und seinem aktuellen Dasein vorauszusetzen. Da für Fromm das "Wesen" des Menschen in seiner inhärenten Widersprüchlichkeit, Teil der Natur zu sein und diese gleichzeitig zu transzendieren, bestehe, komme eine als Trennung vom "wahren Wesen" verstandene Selbstentfremdung (wie beim frühen Marx) jedoch nicht in Frage. Die Selbstentfremdung scheine bei Fromm all das zu beinhalten, was seiner Vorstellung vom menschlichen "Selbst" widerspreche.

"Kurz, eine Person kann nach Fromm sich selbst entfremdet sein, auch wenn es ihr gelingt, 'sich selbst zu erfahren' in der von Fromm gewünschten Weise. Das wirkliche Problem besteht in einem solchen Fall darin, dass seine Selbsterfahrung nicht auf Realität beruht, sondern eine 'Illusion' ist. Fromm argumentiert oft, als ob sein Entfremdungskonzept einfach auf der Ebene des Fehlens der nötigen Selbsterfahrungen zu verstehen sei. Die Unterscheidung, die er machen will, erfordert jedoch, dass die Betonung auf das Problem der Wahrhaftigkeit dieser Erfahrungen gelegt wird. Seine eigene Entwicklung des Konzeptes zwingt ihn, einen Menschen nur dann als nicht von sich selbst entfremdet anzusehen, der nicht nur ein 'Selbstgefühl' hat, sondern auch ein wahrhaftes 'Selbst' ist, das heisst gewisse objektive Bedingungen des Selbstseins erfüllt." (ebd.: 141; meine Übers.) [176]

Fromm erkenne, dass ein entfremdeter Mensch nicht so sei, wie er sein sollte, und dass das Leben als "wahres Selbst" gegenüber der Existenz in einem Zustand der Selbstentfremdung vorzuziehen ist.

"So kennzeichnet er seine Position als 'Normativen Humanismus". (...) Da er sich nicht verstellt, dass ein solches Selbst von der eigentlichen Natur des Menschen eingefordert wird, kann er Hegels und Marx' fertige Erklärung, warum die Menschen so sein sollten, wie er wünschte, dass sie wären, nicht aufnehmen. Aber er kann wie Hegel und Marx Selbstentfremdung konstruieren im Konzept einer Verschiedenheit zwischen der Art, in der ein Mensch ist, und der Art, wie er sein sollte. Das ist die Bedeutung, die hinter dem Gebrauch dieses Ausdrucks steckt. Von sich selbst entfremdet sein bedeutet für Fromm, nicht die Art von 'Selbst' zu sein, die der Mensch sein sollte." (ebd.: 142; meine Übers.) [177]

In seinen abschliessenden Bemerkungen weist Schacht darauf hin, dass Fromm mit "Entfremdung" all das zu bezeichnen scheine, was er ganz persönlich ablehne:

"Er miflbilligt vieles; so überrascht es nicht, dass er Entfremdung 'überall vorherrschend' glaubt. Er benützt das Konzept vor allem zur Kennzeichnung von verschiedenen Arten von Uneinigkeit oder Trennung. Es ist jedoch nicht einfach synonym mit 'Trennung', denn Tennungen, die er gutheisst – wie Nichtkonformität gegenüber sozialen oder kulturellen Verhaltensweisen, werden nicht als Momente oder Formen von Entfremdung bezeichnet." (ebd.: 147; meine Übers.) [178]

Ein Ausdruck, der so weit gefasst sei, könne nur eine sehr allgemeine Idee vermitteln. Dies sei dann der Fall, wenn Fromm in bezug auf den Menschen, die Arbeit, den Konsum, die Gesellschaft und die Lebensweise, die vorherrschenden Formen der zwischen menschlichen Beziehungen, die Sprache, die Liebe und das Denken von "Entfremdung" spreche. Damit drücke er nur aus, dass er spüre, dass etwas in diesen Lebensbereichen "nicht stimme". Doch was im einen Fall falsch sei, unterscheide sich stark von dem, was in einem andern nicht in Ordnung sei.

"Indem der Begriff in so vielen Zusammenhängen gebraucht wird, verliert er jeden spezifischen Inhalt in einem bestimmten Konzept und dient einfach dazu, Unzufriedenheit auszudrücken. Unter diesen Umständen ist es nutzlos, vom 'Entfremdungsphänomen' und 'Entfremdungskonzept' zu reden, wie dies Fromm tun." (ebd.: 147f.: meine Übers.) [179]

 

Persönliche Bewertung

Schachts logisch-analytischer Ansatz vermag das Frommsche Entfremdungskonzept nicht angemessen zu erfassen. Seine Darstellung ermangelt völlig der historisch-genetischen Dimension, wie ich sie im dritten Kapitel aufgezeigt habe.

Was an Schachts Kritik volle Gültigkeit hat, ist hingegen der Nachweis, wie allgemein, unbestimmt und widersprüchlich viele Textstellen Fromms sind. Es ist stossend, wenn dieser immer wieder von "Entfremdung" spricht, ohne den genauen Zusammenhang, die spezifische soziale Gruppe, den Bezug zur jeweiligen kulturellen und wirtschaftlichen Umgebung und vor allem zur implizierten geschichtlichen Entwicklungsstufe anzugeben.

Im Detail lasst sich gut aufzeigen, dass viele der erwähnten Widersprüchlichkeiten darauf zurückzuführen sind, dass Schacht die Dialektik der geschichtlichen Entwicklung des Menschen im Rahmen einer eschatologischen Gesamtdeutung nicht durchschaut. So ändert sich durchaus konsequent das Verhältnis des Menschen zur "Natur" im Laufe seiner zivilisatorischen Entfaltung, der Entwicklung vom neolithischen Jäger und Sammler über den sesshaften Ackerbauern, den Angehörigen einer Feudalgesellschaft bis zum Mitglied der modernen Industriegesellschaft. Das "Wesen" des Menschen wird bei Fromm ja in seiner Wechselbeziehung zur Natur und zu den Mitmenschen definiert. Es ist nur zu begrüssen, dass Fromms Naturbegriff kein starrer, unflexibler, unhistorischer ist, was ihm andernfalls gerade vorzuwerfen wäre. Dass sich aus dem Wandel der Naturbeziehung eine Verschiebung im Verständnis dessen ergibt, was Fromm unter dem "Wesen" des Menschen, seiner "Natur" und dem Gegenbegriff "Entfremdung" versteht, ist durchaus gerechtfertigt.

So bezieht sich "Natur" stärker auf die reine Körperebene, solange "der Mensch" seelisch noch undifferenziert ist und von seinen körperlichen Bedürfnissen geleitet wird. wie es für Fromms Sicht des urtümlichen Menschen kennzeichnend ist. ln der weiteren Entwicklung bilden die Menschen aber ihre technischen Fertigkeiten aus: ihre wirtschaftlichen und sozialen Möglichkeiten differenzieren sich, wo durch ein neues Verhältnis zur "Natur" entsteht: jenes der Naturbeherrschung. Dass der Mensch in einer grundsätzlich negativ zu bewertenden biologischen Entwicklung die ursprüngliche Naturbindung verliert, setzt seinen Weg von der unbewussten animalischen Einheit im Ausgeliefertsein an die "Natur" erst in Gang, in Richtung auf einen bewussten Zustand der Einheit mit der Natur, einer politisch, wirtschaftlich und sozial zu gestaltenden Harmonie, in deren Realisierung der Mensch sich wieder mit der Natur (und mit sich und seinen Mitmenschen) versöhnen kann.

Der je nach dem Entwicklungsstand ganz unterschiedlich gefasste Naturbegriff Fromme ist ganz im Gegenteil zu begrüssen, vermeidet dieser so doch ein metaphysisches Verständnis von "Natur", wie es etwa im positivistischen Weltbild zum Ausdruck kommt. In dem die Natur als etwas Statisches, Eigengesetzliches und dem Menschen Gegenüberstehendes hypostasiert wird.

Dass sich die Entfremdungweisen gleichzeitig mitverändern, ist ein durchaus konsequenter Gedanke. "Entfremdung" ist bei Fromm kein empirisch definierbares, gleichbleibendes Phänomen. Da er das "Wesen" des Menschen entsprechend der individuell und generisch erreichten Entwicklungsphase, die wesentlich von seiner Einstellung zur Natur abhängt, dynamisch fasst, ist "Entfremdung" im jeweiligen Kontext zu verstehen, was Fromms oft unspezifischer und generalisierender Wortgebrauch allerdings sehr erschwert oder gar verunmöglicht.

Das Gleiche gilt für seine Beziehung zu den Mitmenschen, zur Arbeit, zu den Produkten der Arbeit und zu sich selbst. Dem Entfremdungsbegriff Fromms kann eine die Genese nicht berücksichtigenden Analyse überhaupt nicht gerecht werden. Das machen gerade Schachts Schwierigkeiten deutlich.

ln dem Moment allerdings, da Fromm von der "primären Potenzialität des Menschen", seinem "wahren Selbst" etc. spricht, läuft er Gefahr, seinen eigenen dynamischen Ansatz zu verlieren. Wenn das Wesen des Menschen zu einer ontologischen Bestimmung wird (auch wenn sie "existenziell" gefasst wird), die aus der Geschichte herausgenommen wird, verlangt auch die Natur nach einer entsprechenden starren Definition, und Schachts Kritik beginnt dann zu greifen. [180]

 

g) Zur Kritik von Adam Schaff

 Der polnische marxistische Philosoph Schaff stellt zu Beginn seines Werkes Die Entfremdung als soziales Phänomen (1977) fest, "dass die Entfremdungsproblematik in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten in Mode' gekommen" sei.

Ganz im Sinne von Erich Fromm fragt er:

"Ist es denn verwunderlich, daB die Entfremdungstheorie, die besagt, dass die Produkte des Menschen sich in einer bestimmten Situation seiner Kontrolle entziehen und in einem gegebenen gesellschaftlichen Ablauf trotz und entgegen dem Willen ihres Schöpfers zu funktionieren beginnen, dass diese Theorie dann besonderen Glanz annimmt, zu einem besonders geeigneten Instrument der Reflexion über das gesellschaftliche Handeln wird, wenn die Welt sich in verschiedensten – oft ganz unerwarteten Aspekten – der Kontrolle des Menschen entzogen hat und seine Existenz zu gefährden beginnt, so wie ein riesenhafter Golem, den der Mensch zwar geschaffen und in Bewegung gesetzt hat, ohne aber die Formel zu kennen (oder zu akzeptieren), die diese zerstörende Kraft aufhalten könnte? Ist es nicht eine höchst banale Erkenntnis, dass die Menschheit, die sich in der Lage von Goethes Zauberlehrling befindet, ein immer grösseres Interesse für die Theorie bezeugt, die zur Entdeckung jener aus dem Gedächtnis entschwundenen Zauberformel führt, seine eigenen Produkte zu beherrschen." (ebd.: 11) [181]

Für Schaff ist der Entfremdungsbegriff ein wichtiges Element des marxistischen Gedankengebäudes. In seiner Studie stellt er sich einer zweifachen Aufgabe: einerseits nachzuweisen, "dass es sich bei der Entfremdungstheorie um eine authentische Marxsche Idee handelt, und zwar nicht um eine Idee des die Natur nach einer entsprechenden starren Defininoch unreifen, noch 'vor-marxistischen' Marx, sondern um eine des reifen Marx, des 'Vaters unsere Ideen'" (ebd.: 19); zum andern geht es Schaff um den Nachweis, dass es sich bei der Marxschen Entfremdung "um einen der Stützpfeiler der marxistischen Theorie und der darauf beruhenden revolutionären Praxis" (ebd.) handle.

"Die Entfremdungstheorie birgt zwei auch vom Standpunkt der praktischen Tätigkeit wichtige Möglichkeiten: a) die Diagnostizierung negativer gesellschaftlicher Erscheinungen und b) die Bestimmung einer geeigneten Therapie zur Überwindung dieser Erscheinungen." (ebd.: 21)

Während man sich noch vor Kurzem im Zusammenhang mit den Ursprüngen des Entfremdungsgedankens bei Marx darauf beschränkte, eine Verbindungslinie zu Feuerbach zu ziehen oder gerade noch auf Hegel und Rousseau zurückzuverweisen, habe der "Modetrend zur Entfremdung" nun auch Forscher der Geistesgeschichte stimuliert.

"Als vor einigen Jahrzehnten Erich Fromm auf die Bibelgeschichte vom goldenen Kalb als Vorfahren der Entfremdungskonzeption verwies, war das nur ein interessanter literarischer Exkurs. Heute verfügen wir bereits über solides historisches Material, das die Genese der Entfremdungskonzeption immer weiter zurückverlegt, bis in die Antike hinein." (ebd.: 42)

Schaff stellt fest, dass insbesondere in der nicht-marxistischen einschlägigen Literatur die Tendenz festzustellen sei, unter dem Marxschen Begriff der Entfremdung im wesentlichen Selbstentfremdung zu verstehen. Zu den wenigen lobenswerten Ausnahmen zählt er Erich Fromm (daneben auch E. Metzke und A. P. Ogurtow).

"Das weitere Schicksal der Entfremdungstheorie im marxistischen Lager, wo sie langsam, aber sicher Heimatrecht gewinnt, ist nur im Kontext der Entstalinisierung verständlich. Dass sich gegenwärtig die Tabuisierung dieser Problematik auf die Entfremdung im Sozialismus beschränkt – wobei auch dieses Tabu relativiert, zu einem Diskussionsthema wurde und infolgedessen Risse aufweist, das sollte als politisch bedeutsames Faktum gewertet werden." (ebd.: 138)

Zu den Gründen, wieso die Entfremdungstheorie in kommunistisch-marxistischen Kreisen nicht aufgenommen wurde, zählt Schaff den Umstand, "dass in einer Zeit, als diese Kreise sich solidarisch gegen diese Theorie 'sperrten' (mit einer einzigen Ausnahme, nämlich Georg Lukacs, sozialdemokratische und wissenschaftliche Kreise, die sich zu keiner Partei'-Orthodoxie' verpflichtet fühlten, Marxens Manuskripten zu grossem Ruhm verhalfen" (ebd.) und diese zur ethischen Neuinterpretation des Marxismus in reformistischem Geist benutzten. Die Orthodoxen jener Zeit hätten diese Texte überhaupt nicht gekannt, doch habe es sich in der Beschäftigung mit den Marxschen Manuskripten als Teil des Kampfes gegen den Stalinismus gezeigt, dass "die Approbierung dieser Konzeptionen und ihre Einordnung in den grundlegenden Fundus des Marxismus weder die Notwendigkeit nach sich zieht, diesen als ethischen Sozialismus neu zu interpretieren, noch sich von seinem revolutionären Inhalt loszusagen". (ebd.)

Bei der Entfremdung im Arbeitsbereich gehe es aber nicht nur darum, was ein Mensch unter den modernen Produktionsbedingungen empfinde, sondern auch um die objektivierbare Charakterdeformierung.

"Es geht also nicht nur darum, dass der Mensch frustriert ist, wenn er zu einem Schräubchen in der grossen Produktionsmaschine wird, sondern auch darum, dass mit der Zeit bei ihm Krankheitssymptome, Symptome einer psychischen Deformation, zutage treten. Durchaus verständlich, dass auf diese Seite des Problems vor allem die Sozialpsychologen hinweisen, wie zum Beispiel Erich Fromm, der über die Existenzbedingungen einer 'gesunden Gesellschaft' schreibt." (ebd.: 149f.)

Entscheidend sei aber der Übergang von der Beschreibung der Entfremdung in ihren Formen und Ursachen zu ihrer Überwindung und Aufhebung das zentrale Thema des Marxismus. So genüge es nicht zu behaupten, der Sieg des Sozialismus durch die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln bewirke notwendigerweise das Ende jeder Art von Entfremdung.

"Die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln ist die notwendige Voraussetzung, doch ist damit die Entfremdung noch nicht aufgehoben, sie muss in jedem Falle in ihrer konkreten Gestalt aufgehoben werden." (ebd.: 150) [182]

Erich Fromms Position sieht Schaff weit entfernt von jener der sogenannten empirischen Sozialwissenschaftler, und er hebt Fromms bedeutende Rolle bei der Verbreitung der Entfremdungstheorie im amerikanischen Schrifttum hervor.

"Wenn in der amerikanischen Fachliteratur die Entfremdungstheorie 'in Mode' kam und das Jahr 1955 hier eine Zäsur markierte, so sollten wir im Auge behalten, dass gerade in diesem Jahr ein Buch von Fromm erschien, das in dieser Beziehung den grössten Einfluss ausübte: The Sane Society. (...) worin die Entfremdung in den Rang eines der zentralen Probleme der modernen Zivilisation erhoben wird." (ebd.: 216)

Eine Analyse von Fromms Gedanken zum Entfremdungsproblem fällt Schaff nicht leicht. Zum Einen, "weil die Charakterisierung seiner Position und seiner Rolle in der amerikanischen Literatur kompliziert ist" (ebd.: 216), zum Andern und vor allem "wegen der spezifischen Eigenart und der Uneinheitlichkeit seiner theoretischen Konzeption in Bezug auf den Marxismus". (ebd.).

Fromm bemühe sich um ein "Amalgam" aus theoretischen Konzeptionen der Psychoanalyse und des Marxismus.

"Nicht immer gelingt ihm das, und dann finden wir anstelle eines Amalgams zwei verschiedene Gedankenfäden, die nicht immer miteinander verknüpft sind. Und hier beginnen die Schwierigkeiten der Analyse und der theoretischen Beurteilung, was aber der Ergiebigkeit der Anschauungen des Autors keinen Abbruch tut." (ebd.: 217).

Fromm spreche fortwährend von "Entfremdung", doch meine er in der Regel die "Selbstentfremdung", ausser an den Stellen, wo er sich in marxistischer Tradition faktisch auf die "objektive Entfremdung" beziehe.

Schaff lobt die sozialpsychologische Ausrichtung von Fromms Entfremdungstheorie:

"(...) denn die Beschränkung auf Dinge, die sich an der politischen Oberfläche abspielen, und die Vernachlässigung der psychologischen Analyse des eigentlichen Akteurs auf dieser Bühne, des Menschen, war und ist die Schwäche vieler geistiger Strömungen, darunter auch des Marxismus." (ebd.: 218)

Auch die beste Kenntnis der gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze könne irrationale Erscheinungen nicht erklären, die mit der individuellen Psyche des Menschen und seinem gesellschaftlich formierten Charakter verknüpft sind.

Wenn Fromm Marx oft nicht ausdrücklich erwähne, so sei das mit Rücksicht auf seinen Emigrantenstatus und auf die US-amerikanischen Behörden geschehen. Wenn er jedoch von der durch Menschenhand geschaffenen Welt spreche, die der Mensch nicht mehr beherrsche und die zu seinem Herrn und Gott werde, so zeige sich deutlich, dass er Marx' Konzept der objektiven Entfremdung übernehme, während das Gefühl der menschlichen Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit die "natürliche Widerspiegelung" dieser Situation sei, in welcher die Welt zu einer dem Menschen fremden und ihn bedrohenden Gewalt geworden ist.

Fromm übernehme zudem die Marxsche Theorie der Verdinglichung und des Fetischismus, wenn er darauf hinweise, dass die Beziehungen zwischen den Menschen nach aussen hin als Relationen zwischen Dingen in Erscheinung traten, wodurch der Mensch andere Menschen und sogar sich selbst als Ding, als Ware, betrachte.

"Mit Entfremdung ist hier ausdrücklich die objektive Entfremdung gemeint, auch wenn von der Entfremdung vom eigenen Ich die Rede ist, wenn der Mensch sich selbst als Ware behandelt. Erst in der Konklusion aus diesen Ausführungen spielt die Selbstentfremdung hinein, aber auch sie ist organisch verbunden mit der Entfremdungssituation der Produkte des Menschen, mit der Verdinglichung der zwischenmenschlichen Beziehungen." (ebd.: 220)

In Fromms späteren Werken werde dieser wesentliche Gedanke von Fromm weiterentwickelt und ausgeweitet. Dabei verschiebe sich die Betonung deutlich hin zur psychologischen Ebene, und auch wenn dann ausdrücklich von Marx die Rede sei, schwache sich der ursprüngliche Impuls der Marxschen Theorie ab, verschiebe sich von der objektiven zur rein subjektiven Ebene.

"Es sind dies interessante, fruchtbare und für das Verständnis der Situation des Menschen in der modernen Zivilisation notwendige ldeen; dennoch aber wird das Problem der Entfremdung hier anders, subjektiv gestellt. (...) Die Problematik (der ethischen Beurteilung, U. A.) diktiert also schon eine gewisse Verlagerung der Akzente zum subjektiven Element im Leben und Wirken des Menschen. Die Entfremdungsproblematik nimmt daher sichtlich die Gestalt der Selbstentfremdungsproblematik an, insbesondere der Entfremdung des Menschen vom eigenen Ich." (ebd.: 220f.)

Fromms Interpretation der Entfremdung hat nach Schaffs Meinung nicht die erwünschte Klarheit in die komplizierte Problematik hineingebracht, wenn auch "einige Ansätze", besonders im Werk Der moderne Mensch und seine Zukunft, wertvoll seien

"Entfremdung ist hier also der Selbstentfremdung im engeren Sinne (in unserer Terminologie, das heisst der Entfremdung des Menschen von seinem eigenen Ich, gleichgesetzt. Doch ist Fromm in dieser Beziehung (zum Glück!) keineswegs konsequent, denn er versteht zugleich die Entfremdung in ihrer objektiven Bedeutung als Verselbständigung des Menschen, das zu einer ihn beherrschenden Gewalt wird. Er stellt dieses Problem als Götzendienst dar: die Projektion der schöpferischen Kräfte des Menschen nach aussen wird als Götze angebetet, dem materielle Gestalt verliehen wurde. Fromm hält sich in seinem Gedankengang getreulich an Feuerbach, mit dem Unterschied, dass er den Begriff Götzendienst ausweitet und in diese Kategorie auch das Verhältnis des Menschen zu anderen Menschen, ja sich selbst einbezieht." (ebd.: 222)

Gelegentlich erscheine die Entfremdung bei Fromm als "spezifisches Agglomerat von Begriffen", als Benennung eines menschlichen Zustandes, in dem sich der Mensch "verloren" habe, dann wieder in klassischer Marxscher Gestalt, "wenn man getrost nicht nur über die Entfremdung des Menschen von etwas, sondern auch über die Entfremdung der vom Menschen geschafffenen Welt vom Menschen sprechen kann". (ebd.: 223)

"Indem er mit einem mehrdeutigen Begriff operiert, entdeckt Fromm und analysiert vorzüglich Symptome der Entfremdung im gesamten gesellschaftlichen Leben: Einmal geht es um Selbstentfremdung, ein andermal um Erscheinungen der objektiven Entfremdung, aber das Bild lebt, es ist ein Abbild der Wirklichkeit." (ebd.)

Fromms lebendige Beschreibung einzelner Erscheinungen und Symptome sei verbunden mit einem oft unklaren, auf jeden Fall aber mehrdeutigen Ausgangspunkt.

" (...) es geht mir nur darum, Fromms Standpunkt in seiner ganzen Uneinheitlichkeit zu präsentieren. Dahinter verbirgt sich zweifellos Ideenreichtum hinsichtlich der Analyse unserer Zeit, aber auch die Gefahr, dass man über diesen verschiedenen Bedeutungen der Entfremdung den Faden verliert. Um welche von ihnen geht es wirklich? Worüber sprechen wir, wenn wir etwas als 'Entfremdung' bezeichnen? In dieser Vieldeutigkeit der Begriffe steckt die grosse Schwäche von Fromms Konzeption. Unter anderem vermochte sie den Wissenschaftlern, die sich mit dem Problem befassten, gedanklichen Anstoss zu geben, doch gab sie ihnen keine theoretische und methodologische Grundlage für ihre konkreten Untersuchungen." (ebd.: 224) [183]

Schaff betont jedoch, dass er unabhängig von diesem Vorbehalt "nicht nur in vielen Punkten mit Fromms Analyse der Selbstentfremdung des modernen Menschen übereinstimme", sondern auch, dass er "ihm viele Anregungen verdanke und viel von ihm gelernt habe" (ebd.: 225)

Gegenüber den positivistischen Ansätzen lehnt Schaff in völligem Einklang mit Fromm "verbindliche Listen von Entfremdungsaspekten oder -zügen" (ebd.) ab; er will von konkreten sozialen Erscheinungen der Entfremdung (wie zum Beispiel Alkohol- und Drogenkonsum oder soziogene Geisteskrankheiten) ausgehen.

"Das ist der Weg, das Problem in seiner Gesamtheit anzugehen, und er verträgt sich nicht mit dem Konzept einer Behandlung auf der Basis einzelner Elemente, wie Seeman und Davids dies tun.

   (...) schliesslich wollen wir die Selbstentfremdung im weiteren Sinne als Gesamtheit aller Symptome der Entfremdung des Menschen gegenüber irgendeinem Bezugssystem auffassen. Die Selbstentfremdung des Menschen im Sinne der Entfremdung vom eigenen Ich (in den verschiedenen Bedeutungen dieser Formulierung) ist nur Teil des allgemeinen Pro blems, man kann die beiden Begriffe also nicht gleichsetzen, wie manche es tun: Es handelt sich in unserer Terminologie um die Selbstentfremdung im erweiterten Sinne." (ebd: 225f.)

 

Persönliche Bewertung

Grundsätzlich sieht Schaff Fromm viel zu eng innerhalb der marxistischen Theorie, was ich für eine verkürzende und letztlich unfruchtbare Sichtweise halte, die dem Denken und Schaffen Froms nicht gerecht wird. Richtiger wäre es zu sagen, dass Fromm in einer eigenwilligen Optik, die stark den Junghegelianern verbunden ist, aus dem Werk von Marx Stücke herausschneidet, die in seine Konzeption eines säkularisierten und universalisierten Judentums hineinpassen. Auch der Hinweis auf die unter US-amerikanischen Lebensbedingungen der fünfziger Jahre gebotene terminologische Vorsicht bei Veröffentlichungen überzeugt mich nicht. Eingebürgert war Fromm zu diesem Zeitpunkt schon lange, zudem hatte er sich in Mexiko eine neue Lebensgrundlage geschaffen. Nach meinem Dafürhalten ist die zurückhaltende Bezugnahme auf Marx in den vierziger und fünfziger Jahren Ausdruck einer parallel zur Freud-Revision vollzogenen, ebenso gründlichen Umdeutung der Marxschen Theorie. Deren Kern sehe ich in der Wende vom biologischen Materialismus Freuds und vom historischen Materialismus Marx' zu einer stark auf Hegel und dessen Epigonen abgestützten geschichtsidealistischen, ja recht eigentlich geschichtsmetaphysischen Sichtweise.

Schaffs Fromm-Interpretation leidet meiner Meinung nach darunter, dass er aus Freundschaft zu Erich Fromm und wohl auch aus politisch-taktischen Gründen die grössten Ungereimtheiten zu entschuldigen bereit ist oder sie geradezu als besonders originell begrüsst. Dies geht zum Beispiel so weit, dass er zu Fromms Interpretation der Entfremdung als Götzendienst und Verehrung des Goldenen Kalbes (die Verdinglichung der menschlichen Kräfte) meint:

"Das ist sehr schön und richtig gesagt. Zwar steht es entschieden im Widerspruch zu jener Definition der Entfremdung, mit der Fromm diese Ausführungen begonnen hat, so dass wir es also mit einer Inkonsequenz zu tun haben, aber immer wieder haben in der Geistesgeschichte lnkonsequenzen für die Grösse eines Denkers gebürgt." (ebd.: 223)

Wenn Schaff Fromms Verweis auf den Tanz um das Goldene Kalb im Alten Testament nur als "interessanten literarischen Exkurs" würdigt, übergeht er allzu rasch eine der entscheidenden Erkenntnisse von Fromm, nämlich dessen umfassendes Konzept von existenziell und historisch begründeter Entfremdung; dieser ordnet er die spezifischen Marxschen Entfremdungsweisen unter, die ich im zweiten Kapitel skizziert habe (siehe S. 70 bis 93).

Nach Schaffs eigenen Kriterien kann Fromm unmöglich als Marxist begriffen werden, denn:

"Der Marxismus als Theorie ist ein historisch entstandenes System von Ansichten, die in erster Linie aus seiner Philosophie, Soziologie, politischen Theorie und spezifischen Forschungsmethoden besteht. Es handelt sich bei ihm um ein System im strikten Wortsinn; wenn die Klassiker des Marxismus erklärten, dass ihre Standpunkte 'kein System' darstellten, dachten sie dabei an die besondere Bedeutung dieses Wortes, wie sie von den Metaphysikern entwickelt wurde. Mit andern Worten, Marxismus meint eine Reihe von Elementen – in diesem Fall von ganzen Theorien – bei denen die Veränderung des einen die Änderung der anderen zur Folge hat. Deshalb bedeutet die Zurückweisung jedes der Grundelemente des Marxismus, den Marxismus als Ganzes zu verwerfen. So ist es unmöglich, nur 'zu einem Teil' Marxist zu sein, indem man nur gewisse Bereiche oder Aspekte anerkennt; wer das System des marxistischen Denkens nicht bejaht, akzeptiert den Marxismus nicht und ist kein Marxist. Diese erste klare Begrenzung darf nicht überschritten werden, wenn jemand das Recht für sich in Anspruch nehmen will, Marxist genannt zu werden." (1971: 308; meine Übers.; meine Hervorh.) [184]

Diese in meinen Augen viel zu dogmatisch gefasste Definition hindert Schaff jedoch nicht. Fromms Argumente, die gegenüber jenen des orthodoxen Marxismus völlig dissident sind, für sich selbst zu vereinnahmen, was logisch nicht mehr nachvollziehbar ist, in der Berücksichtiguns des politischen Umfeldes des Autors aber verständlich wird.

Schaffs Studie ist im Übrigen ein beeindruckendes Zeugnis politischen Mutes und persönlicher Integrität, packt er doch das heisse Eisen der Entfremdung im Alltag der realsozialistischen Staaten kühn an, auch im Zusammenhang mit der Bürokratie, und er stellt die "ketzerische" Frage nach den Bedingungen zur Überwindung dieser spezifischen Entfremdungsphänomene:

"So wie der Mensch den gesellschaftlichen Institutionen oder seinen Mitmenschen entfremdet sein kann, kann er auch in seinem Verhaltnis zum gesellschaftlich akzeptierten Modell des Menschen, dem Vorbild, wie der Mensch sein sollte, entfremdet sein. Das finden wir sehr oft auch im Sozialismus: Wir arbeiten mit einem Modell, mit dem Ideal des 'sozialistischen Menschen', und zugleich stellen wir in den Ländern, die sich sozialistisch nennen, die Existenz von Menschen fest, deren Charakterzüge jenem Modell diametral entgegengesetzt sind – Verbrecher, Diebe, Nationalisten, Rassisten usf. usf. Das Postulat der 'Erziehung des sozialistischen Menschen' ist nichts anderes als die Forderung nach Aufhebung der Entfremdung in der Persönlichkeit der Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft, das heisst die Forderung nach einer gesellschaftlichen Tätigkeit, die jener Entfremdung an die Wurzel geht und auf die Herausbildung einer neuen Persönlichkeit der Menschen, die in diesen Gesellschaften leben, Einfluss nimmt." (1977: 334f.)

Gerade in diesem Zusammmenhang charakterisiert Schaff auch indirekt und wohl auch unbeabsichtigt Fromms geschichtsphilosophischen Ansatz:

" (Es) bereitet (...) uns keine Schwierigkeit, in einem gegebenen historischen Kontext den Gegensatz festzustellen zwischen dem, was menschenwürdig, und dem, was menschenunwürdig ist; dagegen geraten wir sofort in Schwierigkeiten, wenn wir diese unsere Wertungen auf andere Epochen und andere gesellschaftliche Verhältnisse übertragen, es sei denn, wir nehmen die Sünde der unhistorischen Betrachtungsweise auf uns und projizieren unser eigenes Wertesystem als ein 'natürliches' in die Vergangenheit." (1977: 334)

Genau dies tut aber Fromm. Schaff hingegen beharrt auf einer rein historischen Auffassung der Persönlichkeit und weist den Gedanken einer ausserhalb der Geschichte stehenden, "irgendwie jedem einzelnen als Gattungsexemplar angeborenen 'Natur' oder ein 'Wesen'" (ebd.) mit Recht zurück.

Und schliesslich darf man hinter Fromm nicht nur ldeen FeuerbachS und des jungen Marx sehen, sondern muSSsich auch der Aufnahme von ganz zentralen Gedanken von Bruno Bauer und Moses Hess in Fromms (geschichts)philosophischem Werk bewusst sein.

Was Schaff und Fromm in theoretischer Sicht sehr stark verbindet, ist die besondere Betonung der humanistischen Elemente im Werk von Marx und der zweifellos geglückte Nachweis, dass die Theorie von der menschlichen Entfremdung nicht einfach als "Jugendsünde" von Marx abgetan werden kann, sondern bis in seine Spätschriften hinein durchgehalten wird, allerdings mit unterschiedlichem Stellenwert. Dennoch können beide daraus die Legitimität ableiten, unter Berufung auf den humanistischen Ansatz von Marx (auch) die marxistisch dirigierten und mit einem erheblichen Mass an politischer Unfreiheit belasteten Staaten der Gegenwart zu kritisieren.

 

h) Zur Kritik von Predrag Vranicki

Die Erkenntnis der menschlichen Freiheit als eine ontologische Dimension ist für den jugoslawischen Philosophen und ehemaligen Mitherausgeber der Zeitschrift "Praxis" Vranicki grundlegend für das Verständnis der Frommschen Anthropologie, in der menschliches Dasein und Freiheit von Anfang an untrennbar gegeben sind, wie er im zweiten Band seiner Geschichte des Marxismus schreibt. Diese Betrachtungsweise

" (...) ist eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis der bewegenden Antriebe der menschlichen Existenz und der geschichtlichen Entwicklung, eine notwendige Voraussetzung für ein volleres Verständnis jenes spezifisch Menschlichen, das eine Geschichte hat und selbst Geschichte ist und zu dessen Erklärung am meisten Karl Marx beigetragen hat." (1978: 22)

Vranicki zeichnet Fromms Auffassung nach, dass der einzelne Mensch aus dem Bewusstwerden "der Einsamkeit und der Konfrontation mit der äusseren Welt als einer abgetrennten Entität versuchen müsse, diesen unerträglichen Zustand der Ohnmacht und der Vereinsamung zu überwinden". (ebd.: 23) Dies sei auf dem Weg der "positiven Freiheit", durch Liebe und Arbeit möglich, aber auch in "negativer Freiheit", als Flucht vor den Möglichkeiten des Menschen in den Zustand der Entfremdung.

Fromms Erkenntnisse sind in Vranickis Augen sehr fruchtbar für die Ergänzung der marxistischen Interpretation des Menschen und dessen Geschichte, auch wenn seine Analysen die Grundlagen der historischen Entwicklung nicht wirklich aufklären.

"Aus der bisherigen Erörterung sehen wir, dass Fromm primär daran interessiert war, eine möglichst rationale Antwort auf das Problem der menschlichen Natur zu geben, jener biologischen und psychologischen Charakteristika des Individuums, die uns zwar nicht die Antwort auf die Frage nach den grundlegenden Hebeln der historischen Bewegung und Entwicklung geben können, jedoch sicherlich auf die Frage nach dem Charakter des menschlichen Reagierens und Verhaltens in bestimmten historischen Situationen. Der Mensch handle mit seinen Trieben, Wünschen, Interessen, Antrieben als historisches Wesen, so dass die Kenntnis dieser seiner primären Struktur ein wichtiges Moment einer komplexeren historisch-materialistischen Interpretation der einzelnen historischen Epoche und ihrer verschiedenen Phänomene sei." (ebd.: 27)

So gesehen würden die Analysen und Resultate von Fromm wichtiges Material "sowohl für die Vervollständigung der marxistischen Interpretation des Menschen und der Geschichte als auch für weitere Forschungen und Erkenntnisse" (ebd.) darstellen.

lm Unterschied zu den klassischen marxistischen Autoren habe Fromm einen Ansatz entwickelt, mit dem der Entfremdungsbegriff über den Bereich der Produktion hinaus ausgeweitet werden kann.

"Die Kritik der zeitgenössischen Zivilisation erfolgt vom Standpunkt der Entfremdung aus. Fromm entlarvt die Selbstzufriedenheit der modernen Konsumgesellschaft als einen lügenhaften Schein von Glück, das sich im Wesentlichen in relativ gutem Leben erschöpfe, welches total entfremdet und durch die Interessen des Kapitals manipuliert sei. Diese entfremdete Einstellung dem Verbrauch gegenüber entdeckt Fromm auch dort, wo man sie nicht voraussetzen würde: in der Verwendung der Freizeit." (ebd.: 27f.)

In den heutigen Gesellschaftssystemen setze sich nach Fromm die Manipulation des Menschen, seine Entfremdung und Automatisierung fort. Dies führe zu einem Gefühl wachsender Abnormität und zu einem Leben ohne Sinn und wirkliche Freude, auch in den etatistischen sozialistischen Gesellschaften, "in denen auch weiterhin die Sphäre der Arbeit und die Spähre der Herrschaft als zwei Momente von ein und derselben Entfremdung persistieren". (ebd.: 31)

Verdienstvoll sei Fromms Beharren auf den humanistischen Ansprüchen von Marx an den Sozialismus.

 

Persönliche Bewertung

Vranickis Darstellung ist in jenen Punkten, die er aufgreift, Fromms Anliegen angemessen. Tatsächlich liegt Fromms Stärke darin, in einer fundierten Analyse, die sich auf Marx' sozialkritische Position des Frühwerkes abstützt, die Lebensweise in den hochindustrialisierten Gesellschaftsformationen zu kritisieren und ihre deformierenden Wirkungen in der Arbeitsorganisation, in den sozialen Beziehungen und im Naturverhältnis kritisch und kompetent aufzuzeigen. Dass er die mitteleuropäischen, von kommunistischen Parteien durch ihr politisches Monopol gegängelten Staaten in seine Kritik einbezieht und sie an den humanistischen Postulaten von Marx misst, ist besonders zu begrüssen und weitaus fruchtbarer als die stereotype antisozialistische Argumentationsweise.

Die Gleichsetzung von westlichen und östlichen Gesellschaftssvstemen, die in Fromms Verständnis dieser Länder als "privat-" und "staatskapítalístischen" Staaten zum Ausdruck kommt, ist mir zu vergröbernd und simplifizierend, letztlich unhistorisch und etwas klischeehaft. Sie entspricht einer Sichtweise, welche die historischen Voraussetzungen dieser Länder aus den Augen verliert. Die Ablehnung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen der beiden Grossmächte USA und UdSSR kann nicht genügen, um ihre Strukturen als analoge zu verstehen.

Kritisieren möchte ich aber, dass Vranicki diejenigen Ansichten Fromms zu wenig hervorhebt, die mit jenen von Marx unvereinbar sind, etwa seine Bedürfnislehre, seine idealistische Ethik oder seine Geschichtsmetaphysik.