Kapitel 4: Ergebnisse – Der Prozess der Entfremdung in seiner geschichtlichen Dimension und die Aufhebung der Entfremdung

Fromms Ausgangspunkt für seine Geschichtsphilosophie sind die Erkenntnisse der modernen Evolutionstheorie. Danach ist die Gattung Mensch als ein spätes Produkt im naturgeschichtlichen Prozess zu verstehen.

Diese biologische Sicht kombiniert Fromm mit einer engen Parallelsetzung von Ontogenese und Phylogenese, von individual- und gattungsmenschlicher Entwicklung. In einem dialektischen Wechselspiel von natürlichen Anlagen und sozialem Umfeld progressiv angelegt, kann diese seelisch-geistige Evolution aber gebremst oder verhindert werden. Fromms Denken ist dem Gedanken der Entelechie verpflichtet. Die Entwicklung des Einzelnen wie der Gattung stehen in einem Spannungsverhältnis zwischen Progress und Regress, Wachstum und Verkümmerung. [142]

So wie der Embryo im mütterlichen Schosse heranwächst, taucht auch der Mensch als Gattung im "Schosse der Natur" auf. Und ebenso wie das Erlebnis der physiologischen Geburt für das Menschenkind ein besonders einschneidendes Erlebnis ist, stellt die "Geburt der Menschheit" im Naturprozess ein zentrales, ambivalentes Moment dar. Unter dem Beginn der Menschheitsgeschichte versteht Fromm das negative Ereignis des Triebverlustes und damit der völligen Mangel an lnstinktgeborgenheit. Dieser negativen Grundsituation kann der Mensch nur dadurch begegnen, dass er seine Verstandeskräfte entwickelt. Wenn er überleben will. In der biologischen Forschung sieht Fromm als physiologisches Gegenstück dafür die starke Entwicklung des menschlichen Grosshirns, vor allem des Neocortex.

Die innerseelische Entwicklung ist aber in den Augen Fromms der entscheidende Ort, wo sich das Lebensschicksal des Menschen entscheidet. Der Verlust der natürlichen Triebharmonie löst in ihm ursprünglich negative Gefühle aus: er wird als Furcht vor der Freiheit erfahren. Diese Freiheit am Anfang der Menschheitsgeschichte bedeutet Getrenntsein von der zuvor erlebten Einheit mit dem Kosmos, führt zur Erfahrung von Spannung, Spaltung, Ausgesetztsein.

Diese Charakteristika bezeichnet Fromm als Dichotomien, wobei er grundsätzlich zwischen zwei dichotomischen Grundformen unterscheidet:

Die "existenziellen" Dichotomien sind Ausdruck der Abgetrenntheit von der Natur und bezeichnen im Wesentlichen, dass der Mensch zum Bewusstsein seiner selbst und damit seiner Endlichkeit kommt. Er ist das einzige Lebewesen, dass sich mit seinem Tod auseinandersetzen muss und um die grundsätzliche Begrenzung seiner Entfaltungsmöglichkeiten weiss. Die Trennung von der Natur ist das, was in religiöser Sprache als "Ursünde" (Erbsünde) bezeichnet wird. Erlebnismassig ist es für Mensch wie Menschheit die früheste Form von Entfremdung. Die "existenziellen Dichotomien" sind prinzipiell nicht aufhebbar. Denn sie konstituieren das Menschsein überhaupt erst.

Die "historischen Dichotomien" hingegen entstehen im Laufe des Geschichtsprozesses und sind damit grundsätzlich aufhebbar; dies geschieht optimal im Aufbau einer harmonischen Zukunftsgesellschaft. Deren politische Organisation Fromm als "humanistischen Sozialismus" umschreibt. Im Prozess der Verwirklichung menschlicher Freiheit durchläuft die Menschheit verschiedene Stadien, die von Fromm wiederum parallel zur idealtypisch vorgestellten frühkindlichen Situation begriffen werden: wie der Säugling sich unter normalen Voraussetzungen von einem symbiotischen Stadium Mutter–Kind über eine Phase grösster Anhänglich- und Abhängigkeit von der Mutter in Richtung auf ein Stadium stärkerer Vaterindung hin entwickelt, verläuft auch der gattungsmenschliche Weg von der tierischen Bewusstlosigkeit der vormenschlichen Epoche (Symbiose von Mensch und Natur) vorerst zum dämmernden Anfangsbewusstsein der matriarchalischen Gesellschaften, wie sie Bachofen und Morgan hypothetisch angenommen haben.

Im Matriarchat wird das einzelne Mitglied durch das Familien-, Sippen-, Klan- oder Stammesdenken geprägt. Er erlebt auf der andern Seite eine grundsätzliche Gleichheit und Menschlichkeit sowie ein Gefühl unbestrittener Zugehörigkeit, das Sicherheit vermittelt. Seine Möglichkeiten zur Individuation allerdings sind gering, die Bindungen an Blut und Boden überstark. In den matriarchalischen Gesellschaften gibt es weder Privateigentum noch Arbeitsteilung, weder Hierarchie noch Institutionen.

Diese Menschheitsepoche des "Matriarchats" wird in einem krisenhaften Prozess abgelöst durch die Geschichtsformation des "Patriarchats", bedingt durch die Entwicklung der Produktivkräfte. Die wirtschaftliche Effizienz wird stark gesteigert, es bilden sich Arbeitsteilung, hierarchische Sozialstrukturen und Privateigentum heraus. An die Stelle von Gleichheit und Menschlichkeit treten gesellschaftliche Unterschiede und der Kampf ums Überleben des Stärkeren. Den errungenen Privilegien bei den einen entspricht Mangel und Not bei den andern. Die in grösseren Gesellschaftsgruppen organisierten Menschen beginnen sich stark voneinander zu unterscheiden, und die sozialen Differenzen werden im Interesse der Mächtigen aufrechterhalten, wobei sie sich neben der nackten Gewalt auch der "Ideologie" als "falschem Bewusstsein" bedienen. Kurz: die Klassengesellschaft und das bürgerliche Weltbild entstehen.

Gleichzeitig mit der Ablösung des angeblichen Matriarchats durch das Patriarchat entstehen in allen grösseren Kulturkreisen monotheistische Religionen, die den Gedanken von der verlorenen Einheit der Menschen aufnehmen und als Glaubens- und Zukunftshoffnung bewusst ausformen.

Um Fromms Geschichtsinterpretation angemessen verstehen zu können, ist zu betonen, dass dieser Prozess nicht nach einem vorgefertigten Plan einfach auf sein Ziel hin abläuft (teleologische Geschichtskonzeption). [143] Wie die kindliche Entwicklung kann er jederzeit behindert oder gar verhindert werden, wenn die Gegenkräfte, die aus der Unterdrückung der im Menschen angelegten Kräften in der Art eines Teufelskreises entstehen, übermächtig werden (eidetische, entelechische Geschichtsauffassung).

Die abendländische Geschichte beruht nach Fromm auf dem griechischen und dem jüdisch-christlichen Kulturfundament. Unter den repressiven repressiven Einflüssen des institutionalisierten Christentums ist das humanistisches Denken und Handeln allerdings fast ganz verloren gegangen und erst in der Renaissance wiederbelebt worden. Die Zerschlagung der Feudalgesellschaft durch das Bürgertum und der Aufbau einer kapitalistischen Produktionsweise haben zu einer Neubelebung des Humanismus in den Werken der sozialistischen Denker (vor allem bei Marx) geführt. Als Vordenker der Arbeiterbewegung haben sie den Kampf gegen die zunehmende Entfremdung des Menschen in all seinen Lebensbereichen aufgenommen und die Vision einer harmonischen Zukunftsgesellschaft erneuert.

Allerdings haben sich diese utopischen Hoffnungen im zwanzigsten Jahrhundert nicht erfüllt. Anstelle des erstrebten humanistischen Sozialismus, der für Fromm Chiffre für diese Einheit des Menschen mit der Natur und mit den Mitmenschen ist, haben sich neue, überaus entfremdete Gesellschaften ausgebildet, in denen der Mensch immer mehr zum Teil einer selbstgeschaffenen, aber nicht mehr kontrollierbaren Riesenmaschine geworden ist. Er vergöttert die Produkte seiner Arbeit, gibt sich einem Konsumhedonismus hin und droht im Massenkonformismus unterzugehen. Zudem ist die ganze Gattung von der Gefahr der völligen Vernichtung durch militärische oder ökologische Katastrophen bedroht.

Die Entfremdung hat in Fromms Augen in der modernen Gesellschaft einen bedrohlichen neuen Höhepunkt erreicht. Sie prägt alle Lebensbereiche und umfasst alle Schichten und Klassen. Aber nur in der Anknüpfung an die nie erloschene Vision des eschaton, in der rationalen Ausgestaltung einer sozialistischen Gesellschaft, in der die arbeitenden Menschen alle Bereiche von der Produktion über
die Distribution bis zum Konsum mitbestimmen, können sie zu ihrem wahren Selbst zurückkehren und die in ihnen angelegten Kräfte optimal verwirklichen. Hier wird ihren Grundbedürfnissen in bestmöglicher Weise entsprochen. Dies setzt ein Aufbrechen des destruktiven Teufelskreises zugunsten der primär positiven humanen Fähigkeiten von "Glaube", "Hoffnung", "Liebe" und "Arbeit" voraus, die im Innersten des Menschen auf ihre Verwirklichung warten.

Diese neue Gesellschaft soll in dialektischer Weise die Synthese der beiden grossen Stadien der Geschichteverwirklichen, des Matriarchats und des Patriarchats, in der Überwindung der negativen Seiten (symbiotische Verstrickung, Ineffizienz, Beeinträchtigung des Vernunftvermögens und Partikularismus auf der matriarchalischen Stufe: Hierarchie, Unterdrückung, Privateigentum, Arbeitsteilung, Spezialistentum, Materialismus auf der patriarchalischen), während sie die positiven (Lebensbejahung, Freiheit und Gleichheit, Solidarität der matriarchalischen Lebensform; Vernunft, Gewissen und lndividualismus jener des Patriarchats) zu bewahren weiss.

Im religiösen Denken des Alten Testamentes sieht Fromm diesen geschichtlichen Prozess vorgebildet: im Gedanken vom Goldenen Zeitalter, von der Vertreibung aus dem Paradies, in der prophetischen Vision von der Messianischen Zeit und dem Ewigen Frieden, aber auch in der gelebten Vorstellung des Sabbat als der vorweggenommenen Harmonie und bewussten Einheit des Menschen mit sich, der Gesellschaft und der Natur.

In noch stärkerer Verkürzung ist Fromms Geschichtsphilosophie zu verstehen als Prozess der menschlichen Selbstentfaltung vom Goldenen Zeitalter der Vergangenheit zur messianischen Ära der Zukunft, vom pränatalen, symbiotischen Vegetieren zur vollen Geburt und intensiven Wahrnehmung des Seins, von der bewusstlosen Harmonie animalischer Existenz in der Natur zur in vollem Bewusstsein und in der vollen Entfaltung der Kräfte von Vernunft, Glaube und Liebe vollzogenen Einheit einer solidarischen Gesellschaft unter dem Banner des humanistischen Sozialismus, der den idealen Nährboden für die produktiven Möglichkeiten des Menschen als Individuum und Gattung bietet – notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingungen für die Möglichkeit, mit sich, den Mitmenschen und der Natur auf höherer Bewusstseinsebene eins zu werden.

Fromms Entfremdungskonzept ist wesentlich den Linkshegelianern verpflichtet (Feuerbach, Bauer, Hess und früher Marx). Es enthält aber auch philosophische Elemente von Hegel, Rousseau, der christlichen und jüdischen Mystik sowie Aristoteles.

Was Hegel als dialektische Entwicklung des zu sich selbst kommenden Weltgeistes auffasst, verlegt Fromm in die Seele des Menschen, in seinen innersten Wesenskern, seine Potentialität. Sein Dreischritt besteht in radikaler Verkürzung aus den Elementen "Matriarchat" (These: Entäusserung), "Patriarchat" (Antithese: Entfremdung) und "Humanistischer Sozialismus" (Synthese: Wiedervereinigung), die Fromms historisches Denken als eigentliche Geschichtsmetaphysik Hegelscher Provenienz enthüllen. [144] "Entfremdung" ist darin der ganz zentrale Begriff. [145]