Kapitel 1: Der Gedanke der Entfremdung in philosophiegeschichtlicher Sicht


a) Herkunft und Bedeutung des Entfremdungsbegriffs

Von "Entfremdung" ist im Laufe der abendländischen Kulturgeschichte in mannigfachen Zusammenhängen und Bedeutungen die Rede, die sich letztlich in theologische, philosophische, juristische und medizinisch-psychiatrische Bezüge einordnen lassen. [18]

Die etymologischen Wurzeln des Begriffs "Entfremdung" liegen in den beiden lateinischen Termini alienatio (Entfremdung, Entäusserung, im Sinne des Weggebens einer Sache in fremden Besitz, Abfall) und alienare (veräussern, entfremden, entzweien, etwas in fremde Hände geben), auch in den Variationen abalienatio und abalienare). Im Griechischen geht "Entfremdung" auf αποξένωση zurück.

So bezeichnet zum Beispiel Aristoteles mit dem Begriff αποξένωση den vom Verkehr und Recht der Polis separierten Menschen, während in der Vulgata mit alienatus der aus der Gemeinschaft des Volkes Israel Ausgeschlossene gemeint ist.

In der juristischen Bedeutung meint Entfremdung seit der griechischen Klassik, dass eine Sache aus der Verfügungsgewalt einer Person in die einer anderen übergeht. Diese Tradition lebte gegen Ende des 15. Jahrhunderts wieder auf und hat sich in den Begriffen "entfremden" und "alienieren" über lange Zeit erhalten.

In diesem Zusammenhang ist auch der Hinweis von Interesse, dass in der klassischen bürgerlichen Ökonomie Englands der Begriff "Entfremdung" auftaucht als "Veräusserung" eines Gegenstandes, der dadurch seinem Produzenten "entfremdet" wird. [19]

"Veräusserung" ist zudem auch ein Element der naturrechtlichen Theorien vom Gesellschaftsvertrag im 18. Jahrhundert, womit die "Übertragung" (im Sinne von "Verlust") der ursprünglichen Freiheit an eine Macht gemeint ist, die dem Individuum gegenübersteht, sei es in Gestalt eines einzelnen Herrschers oder als Gesamtgesellschaft.

Allerdings kannten bereits die Kirchenväter, die Scholastiker und die Mystiker den Terminus alienatio in breiter Bedeutung, speziell im wertfreien Sinn von Trennung, jedoch auch abwertend für den Abfall von Gott oder positiv gewendet für die Abkehr von allem Irdischen. Gebräuchlich ist auch die Bezeichnung alienatio mentis für Zustände geistiger Verwirrung.

Der Stuttgarter Universitätsdozent Reinhart Maurer vertritt die interessante und überzeugende Ansicht, dass sich das Entfremdungsgefühl in der Zeit der ausklingenden Epoche und in der Dekadenz des römischen Imperiums besonders intensivierte, nachdem die Polis als letzte "geschlossene Gesellschaft", in welcher die jeweiligen Götter in die allumfassende Endlichkeit des Kosmos eingegliedert waren, zerschlagen war:

"Nach der Aufspaltung der überdimensionalen Polis des Römischen Reiches war es mit dem politischen Heimischsein prinzipiell vorbei. Politische Entfremdung wurde Normalzustand. Der Boden war bereitet für den überpolitischen Gott der Juden und Christen. In der Verbindung zu ihm hatten die Menschen ihre eigentliche Heimat in einer anderen Welt." (Maurer, in: Krings et al., 1973: 349f.)

Die Reaktion darauf war einerseits Gleichgültigkeit und Quietismus, anderseits Unterwerfung unter ein göttliches Wesen, das in der Vermittlung durch den zur Erde gesandten Sohn, der – den Opfertod auf sich nehmend – die endliche Welt in ihrer Beziehung zum Einzelnen geheiligt hat; dieser Gottheit hat der gläubige Mensch nun ebenso zu dienen, wie die Natur ihm selbst zu Diensten zu sein hat.

"Die einzelne Seele gewann als solche unendlichen Wert und war damit ihrer Umwelt entfremdet: sowohl gegenüber den Dingen und Tieren, die primär nur noch Bedeutung in Bezug auf den Menschen hatten, alle in sich magische, dämonische, göttliche Bedeutung verloren, wie auch gegenüber den anderen Individuen von unendlichem Wert, die mindestens ebenso sehr auf sich bezogen waren als aufeinander. In welcher Art von Gemeinschaft (Familie, Staat, Kirche) auch immer, begünstigt von der christlichen Religion wuchs der Begriff einer unendlichen Freiheit, die eine auf endliche, erfahrbare Weise unendliche Welt als Arbeits- und Spielraum brauchte, eine Welt, in der das freie Subjekt nie und nirgends ganz zu Hause sein konnte und die ihm gerade darum als die unendliche Aufgabe, sie sich gemäss zu machen, gegenüberstand." (ebd. 350: meine Hervorh.)

Aufgebrochen wurde mit dem wachsenden Freiheitsbewusstsein auch die Geschlossenheit des ptolemäischen Weltbildes – Jahrhunderte bevor die modernen Wissenschaften dies empirisch nachwiesen. Der Unendlichkeit des Subjektverständnisses entsprach jene der Welt im Sinne der Hypothese eines nach allen Seiten mit wachsender Beschleunigung expandierenden Kosmos:

"Lange bevor die Entfremdung in der Beziehung des Subjekts zu sich und seiner Welt spürbar und analysierbar wurde, lauerte sie bereits als Kehrseite der Freiheit. Man kann von der Geburt der Entfremdung aus der Freiheit sprechen, denn die Freiheit als das reine Aus-sich kann alles Nicht-Ich nur als das Material und Instrumentarium seiner Entfaltung gebrauchen. Indem das Christentum den Menschen zwischen Welt und Überwelt ausspannte, förderte es, wie vor allem Hegel gesehen hat, die Entwicklung des Bewusstseins der Freiheit, zumal auch dadurch, dass es dazu in Stand setzte, die zur Freiheit gehörige Entfremdung zu ertragen. So ermöglichte es eine Steigerung der Entfremdung bis an die Grenze des Erträglichen und der kritischen Reflexion darauf." (ebd.; meine Hervorh.)

Das Verb "entfremden" ist in literarischem Kontext in der mittelhochdeutschen Sprache bezeugt. Sein erstmaliger Gebrauch in philosophischen Zusammenhang geht zurück auf Meister Eckhart im frühen 14, Jahrhundert; dieser führte auch die Substantivableitung "entvrömdekeit" ein.

Erstaunen muss nach dem Vorangestellten, dass in der deutschen philosophischen Sprache der Begriff "Entfremdung" erst an der Wende zum 19. Jahrhundert nachzuweisen ist.

So verwendet Wilhelm von Humboldt diesen Begriff 1793 in einem erst posthum veröffentlichten Fragment, während Hegel ihn 1807 in der "Phänomenologie des Geistes" einsetzt.

Welches ist aber die allgemeíne Bedeutung und der geschichtliche Anknüpfungspunkt des modernen Entfremdungsgedankens? Dazu wieder Maurer: 

"Entfremdung bezeichnet entweder den Vorgang der Veränderung des früheren Zustandes, oder, ohne Rücksicht auf die Genese, den vorhandenen Zustand der Dissoziation. In beiden Fällen ist der Bezugspunkt, von dem aus Entfremdung festgestellt werden kann, ein anderer Zustand, nämlich ein Vertraut- und Heimischsein, eine Einheit, Einigkeit, Harmonie, Freundschaft, Liebe. Entfremdung als Zustand ist die gleichgültige bis feindliche Beziehung zwischen Menschen oder zwischen Mensch und dinglicher Umwelt. Das Subjekt der Entfremdung entfremdet sich oder wird entfremdet." (in: Krings et al., 1973: 348; meine Hervor.

Und als "ideologischen Ort", wo Entfremdung eine Schlüsselrolle in der modernen Philosophie spielt, nennt er die neuere Marxismus-Diskussion. Denn Marx hat den Begriff in der Weiterführung Hegelscher Ansätze zur Basis seines dialektischen Materialismus gemacht und ihm wirkungsgeschichtlich zu einer so grossen Bedeutung verhelfen, dass man ihn heute als einen der wichtigsten Begriffe der praktischen Philosophie bezeichnen kann. [20]

Seit den 1920er-Jahren wurde das Marxsche Entfremdungskonzept zum Kampfplatz zwischen "orthodoxen" und "revisionistischen" Marxisten – von Georg Lukács Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) bis zu Adam Schaffs Entfremdung als soziales Phänomen (1977).

Für eine Neubelebung der Diskussion um die Entfremdung sorgte 1932 Riasanow durch die Veröffentlichung der Ökonomisch-Philosophischen Schriften (1844) des jungen Karl Marx. Diese zeigen besonders eindrücklich die Verankerung seiner Philosophie im Hegelschen Denken und die Anknüpfung an dessen Entfremdungsbegriff auf. So wurde im dogmatischen, in Machtpolitik erstarrten Marxismus der Begriff "Entfremdung" weitgehend als idealistisches "Relikt" aus der Frühzeit Marxschen Denkens abgewehrt, während die mehr humanistisch und an der Wahrung der Bürger- und Menschenrechte orientierten "Revisionisten" die Kontinuität im Marxschen Gedankentum akzentuierten und in der Wiederaufnahme der Marxschen Forderung, jede Form von Entfremdung zu überwinden, am ethisch-moralischen Impuls festhielten, aus dieser Sicht den "real existierenden Sozialismus" und seine Ideologie systemimmanent kritisierten und seine stetige Vorläufigkeit und grundsätzliche Mangelhaftigkeit monierten." [21]

In diesem Zusammenhang spielen Fromms Schriften eine besondere Rolle. Nicht ohne Grund sind sie in Jugoslawien und in Polen immer besonders populär gewesen, während ihre Lektüre in der Sowjetunion noch vor Kurzem mit Gefängnisstrafen bedroht war. [22]

Erwähnenswert ist hier auch, dass die Bedeutung von "Entfremdung" im englischen und im romanischen Sprachraum, in welchem Fromm ja überwiegend publiziert hat, nicht völlig identisch ist mit jener im deutschen. So haben alienation, to alienate (engl.), aliénation, aliéner (frz.), alienazione, alienare (ital.) und alienación, alienar (span.) " (...) mit unterschiedlicher Akzentuierung zunächst die Bedeutung von Veräusserung. Entäusserung im ökonomischen und juristischen Sinne und übernehmen dann philosophisch und soziologisch weitgehend auch die Bedeutung von 'Entfremdung' im deutschen philosophischen Sprachgebrauch; (...)", (Ritz, in: Ritter, 1972: 510)

Das medizinisch-psychiatrische Verständnis von Wahnsinn oder Irresein, die alienatio mentis (alienation mentale), ist allerdings im deutschsprachigen Sprachraum erst nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutsam geworden. [23]



b) Der theologische Gedanke der Entfremdung

In der Geschichte der Theologie hat "Entfremdung" nie eine streng dogmatische Bedeutung erhalten.

"Zwischen 1. Jh. vor und 1. Jh. nach Chr. begegnet 'entfremden' (αποξένωση) im gnostischen Zusammenhang des 'Corpus Hermeticum' und bedeutet dort die Herauslösung des Pneuma oder des 'Funkens' aus seinem Eingerichtetsein in das trügerische, von Heil getrennte Leben der Menschen in dieser Welt: durch E. wird die Ausrichtung auf das Jenseits möglich und der Weg zum Heil und zu pneumatischer Wiedergeburt gebahnt." (Ritz, in: Ritter, 1972: 510)

Zu beachten ist, dass der Begriff "Entfremdung" vom Beginn seiner Bedeutungsgeschichte an auch in positiver Sinngebung verstanden wird, als Abwendung vom schädigenden und heilsverhindernden Diesseitsbezug.

Bereits um 200 (n. Chr.) spricht Origines von alienatio mentis und versteht darunter die "Verwirrung" (obturbatio) des vom sinnlichen Leib an sich unabhängigen freien Geistes" (ebd.). Alienatio verweist auf die erlösungsbedürftige Verstrickung der menschlichen Seele in Körper- und Sinnlichkeit.

Auch bei Cyprianus (um 200 bis 258) finden wir in den Gedanken zum Gebet (250) Entfremdung in negativem Sinnzusammenhang. Er schildert, wie der zu wenig wachsame Beter durch weltliche und fleischliche Gedanken dem Gespräch mit Gott entfremdet und so in seiner Weltlichkeit gefangen bleibt (abalienari et carpi).

Athanasius (296 bis 373) setzt den Begriff im Sinne der Trennung von ontologisch und theologisch "Unaufgebbarem" in den Auseinandersetzungen mit den Arianern ein. Er meint damit eine unwahre, häretische Beziehung zur christlich geoffenbarten Wahrheit, die von der Kirche bewahrt wird. Sein Konzept wird von den Konzilien von Nikäa (325) und Konstantinopel (381) bestätigt und zur Lehrmeinung der Kirche erhoben.

Für Augustinus (354 bis 430) bezieht sich der mit den Begriffen alienatio, abalienatio, abalienare und alienare verbundene Komplex auf Erkenntnisansprüche in Kosmologie, Soteriologie, Eschatologie und Theologie jenseits der gefestigten Grundlagen christlicher Wahrheit. "Entfremdung" bildet den Gegenpol zur Identität von Erkenntnis und Heil aus der Gnade des Glaubens heraus. In allgemeinerem Verständnis dient der Begriff auch zur Darstellung der heilsgeschichtlichen Situation der Individuen.

" (...) auf Grund ihrer aus der Sünde hervorgehenden sinnlichen Begierde; Schuld wird diese 'angeborene' Entfremdung, wenn der Mensch es unterlässt, sich aus dieser Begierde zu lösen: 'ne abstraheris a concupiscencia tua, alienat te a Deo' (entziehst du dich nicht deiner Begierde, entfremdet sie dich Gott')." (ebd.: 511)

Der nordafrikanische Kirchenvater erwähnt auch die Verdammnis zu ewiger Strafe für die Entfremdung vom Leben Gottes (alienare a vita Dei).

" (...) umgekehrt kann das Wort auch positiv die 'völlige Abkehr des Geistes von den sterblichen Dingen und Vergessen des Elends dieser Weltzeit' (omnimoda mentis abalienatio a mortalibus rebus et miseriarum saeculi huius oblivio) meinen. In Weiterführung dieses Gedankens kann Augustinus schliesslich zur Charakterisierung der Vision des Paulus von Entfremdung als ekstatischer Lösung von den leiblichen Sinnen sprechen. Die spätere mystische Auffassung, die die Entrückung in den dritten Himmel 'Entfremdung' nennt, kündigt sich hier an." (ebd.)

Die mystische Tradition knüpft wieder an den positiven Sinn der Entfremdung an. In ihr wird alienatio zur Voraussetzung und zum Beginn der reinen Erfahrung von übernatürlicher Wahrheit. So bedeutet für Guigo von Kastell (1088 bis 1138) Entfremdung die Lösung des Menschen vom lrdischen mithilfe der Ekstase des Geistes ("a terrenis per mentis excessum alienare"; ebd.).

Bei den Frühscholastikern – so bei Hugo (1096 bis 1141) und Richard von St. Viktor (gest. 1173) wird alienatio als die oberste von drei Kontemplationsstufen interpretiert – ein Geschenk der göttlichen Gnade und Hilfe bei der Überwindung der sinnlichen Widerstände,
was Erfahrungen ermöglicht die dem menschlichen Geist sonst fremd und unzugänglich sind.

Für Bonaventura (1221 bis 1274) verwirklicht sich in der Entfremdung von der sinnlichen Unmittelbarkeit und der Aussenwelt – "alienatio a sensibus et ab omni eo quod est extra" (ebd.) – das Bewusstsein von der unmittelbaren Gegenwart Gottes, während er den Erfahrungen der Ekstase kritisch gegenübersteht.

Thomas von Aquin (1225 bis 1274) gebraucht den Begriff alienatio einerseits im Sinne einer krankhaften Geistestrübung, anderseits als Zustand der Loslösung von der Sinneswelt und den eigenen Entwürfen, so im Zusammenhang mit der Lehre von der übernatürlichen Vision, als deren klassisches Beispiel die Erleuchtung des Paulus gilt. Das Verständnis von Entfremdung wird erweitert zur Beschreibung jeglicher Ekstase als ein Ausser-sich-gesetzt-Werden, wie es in besonderen Momenten von Einsicht oder mit Hilfe der Sterbekraft erlitten werden kann.

Einen letzten grossen Höhepunkt im religiös-mystischen Verständnis der Entfremdung stellen die deutschen Mystiker des Mittelalters dar, vornehmlich Meister Eckhart, dessen Schriften ja auch für Erich Fromm von besonderer Anziehungskraft waren. Der mittelalterliche Mystiker versucht, die Einschränkung der Entfremdung auf besondere Situationen, wie sie Thomas von Aquin anstrebt, durch die Verallgemeinerung ihrer Bedeutung wieder aufzuheben.

"Daz ist diu entfrömdekeit des unvermengeten wesens aller crêatûren, daz doch aller wesen wesen ist'. Indem die Seele sich aus ihrer Naturverhaftetheit und Kreatürlichkeit in sich zurücknimmt ('Eyâ, alsô ist sie entfrömdet allen gesacheten Sachen'), wird Entäusserung zur Voraussetzung des Lebens in Wahrheit: 'Eyâ, sol ich nû daz sprechen gotes in mir vernemen, sô muoz ich alse gar entfremdet sîn von allem dem, daz mîn ist, recht als mir daz fremde ist." (Meister Eckhart, zit. ebd.: 512)

In Eckharts Verständnis ist Entfremdung konstitutiv für ein subjektives Leben in der Wahrheit, ganz im Kontrast zum traditionellen Verständnis des Entfremdungsgedankens.

Ihre Fortsetzung findet das Verständnis von Entfremdung als Vorstufe der Erkenntnis Gottes unter anderem beim flämischen Mystiker Jean Dirks de Schonhoven (gestorben 1431) und bei Jérôme Gracian de la Mère de Dieu (gestorben 1814), einem Vertreter der Karmelitermystik.

Mehr der von Hegel dann später aufgenommenen Traditionslinie verpflichtet ist der Ansatz von Blaise Pascal (1623 bis 1662), der die kosmische Entfremdung des Menschen anspricht und seine Leser zur Bewusstheit ihrer Verlorenheit in einem unendlichen Weltall auffordert, wo sie als verirrte Wesen in einem versprengten Winkel der Welt leben. Pascal sieht den Menschen in einer Mittelstellung zwischen Nichts und All, das heisst zwischen unendlichen, in Gott zu denkenden Extremen. Der Mensch täte besser daran, in Stille und Bescheidenheit über die Abgründe des unendlich Grossen und unendlich Kleinen nachzusinnen, statt sie in anmassender Weise erforschen zu wollen, ohne an ein Ziel gelangen zu können, meint der französische Philosoph.

Es ist interessant zu sehen, dass der heutige Papst Johannes Paul Il. in seiner Enzyklika "Redemptor hominis" (1978) den Entfremdungsgedanken wieder aufgreift. [24] Etwas gewunden knüpft er stark an marxistische Denkelemente an, wenn er schreibt: 

"Der Mensch von heute scheint immer wieder von dem bedroht zu sein sein, was er selbst produziert, das heisst vom Ergebnis der Arbeit seines Verstandes und seiner Willensentscheidung. Die Früchte dieser vielgestaltigen Aktivität des Menschen sind nicht nur Gegenstand von Entfremdung, weil sie denjenigen, der sie hervorgebracht hat, einfachhin genommen werden; allzu oft und nicht selten unvorhersehbar wenden sich diese Früchte, wenigstens teilweise, in einer konsequenten Folge von Wirkungen indirekt gegen den Menschen selbst. So sind sie tatsächlich gegen ihn gerichtet oder können es jederzeit sein. Hieraus scheint das wichtigste Kapitel des Dramas der heutigen menschlichen Existenz in seiner breitesten und universellen Dimension zu bestehen. Der Mensch lebt darum immer mehr in Angst. Er befürchtet, dass seine Produkte, natürlich nicht alle, und auch nicht die Mehrzahl, aber doch etliche und gerade jene, die ein beträchtliches Mass an Genialität und schöpferischer Kraft enthalten, sich in radikaler Weise gegen ihn selbst kehren könnten – er fürchtet, sie könnten Mittel und Instrumente einer unvorstellbaren Selbstzerstörung werden, vor der alle Katastrophen der Geschichte, die wir kennen, zu verblassen scheinen." (1979: 50)

Und wenig später erfahren wir auch, bei wem der ehemalige Professor an der Universität von Lublin, Karol Wojtyla, geistige Anleihe genommen hat:

"Der zentrale Sinn dieser 'Königswürde' und dieser 'Herrschaft' des Menschen über die sichtbare Welt, die ihm vom Schöpfer als Aufgabe anvertraut worden ist, besteht im Vorrang der Ethik vor der Technik, im Primat der Person über die Dinge, in der Überordnung des Geistes über die Materie.

   (...) Es handelt sich hier um die Entwicklung von Personen und nicht nur der vielen Dinge, deren sich die Personen bedienen können. Es geht – wie ein zeitgenössischer Philosoph gesagt und auch das Konzil festgestellt hat – nicht so sehr darum, 'mehr zu haben', sondern 'mehr zu sein'." (ebd.: 56f.; meine Hervor.



c) Der philosophisch-politische Gedanke der Entfremdung

Der säkulare – oder vielmehr säkularisierte – Entfremdungsbegriff erreicht erst im 19. Jahrhundert seine eigentliche Wirkkraft. Ein längst in der Umgangssprache und in untergeordneter Funktion in Philosophie und Theologie eingeführter Terminus beginnt parallel zur explosionsartigen technisch-industriellen Entwicklung seinen zentralen Platz im politisch-philosophischen Bereich zu erobern. Die mit dem Aufstieg des Kapitalismus einhergehenden menschenunwürdigen Bedingungen im sozialen, politischen und wirtschaftlichen Leben schaffen den Erlebnishintergrund für die Verbreitung des Entfremdungsgedankens auch im Volksbewusstsein.

Am Übergang vom theologischen zum philosophischen Verständnis der "Entfremdung", wie es durch Hegel dann voll entfaltet wird, steht Martin Luther (1483 bis 1546). Ausgehend vom Konzept der völligen Korruption der menschlichen Natur durch die Erbsünde vertritt dieser die These, dass in der Ordnung der Natur nichts Gültiges besteht. Das metaphysische Verhältnis des Menschen zu seinem Schöpfer ist die Beziehung des Sünders zum beleidigten Gott, In der Sünde liegt für Luther der Übergang von der metaphysischen Ordnung der natürlichen Dinge zum moralischen Bereich. Der Sünder wendet sich prinzipiell ab von seinem wahren Ziel, von Gott (aversio a Deo). Zwischen Gott und Mensch besteht ein antithetisches Verhältnis, eine nicht mehr vermittelbare Spaltung – Gott wird zum "ganz Anderen". Vermittelndes Glied zwischen Luther und Hegel ist die theologische Konzeption der kénosis. Bei Hegel wird die Kluft zwischen Endlichem und Unendlichem im geschichtlichen Prozess dialektisch vermittelt, die Entfremdung im Zu-sich-Kommen des absoluten Selbst überwunden, die Erbsünde gesühnt.

Der fachphilosophische Begriff der Entfremdung stammt allerdings ursprünglich aus dem ökonomischen und juristischen Verständnis von alienatio: die Entäusserung oder Veräusserung als Übertragung von Rechten. Dieses Verständnis von Entfremdung wird im Verhältnis der Gesellschaft zum Individuum relevant. Der fortgeschrittene Zustand von Kultur, Ökonomie und Gesellschaft gilt dabei als Progress aus einem rohen und ursprünglichen Naturzustand.


1) Jean-Jacques Rousseau

Den ersten Meilenstein im politisch-juristischen Verständnis von Entfremdung setzt der französische Denker Rousseau (1712 bis 1778) in seinem Werk Du Contrat social (1762), wo er in vertragstheoretischem Zusammenhang von Veräusserung (Entäusserung) spricht.

Unter aliénation totale versteht Rousseau die im normativen Gesellschaftsvertrag ohne Vorbehalte erfolgende völlige Entäusserung der natürlichen Freiheit jedes einzelnen Menschen an die Gemeinschaft,; dadurch werden in der Verbindung mit dem Allgemeinwillen (volonté générale) Gleichheit und individuelle bürgerliche Freiheit realisiert und konstituiert sich der Einzelne als Citoyen.

In Entsprechung zum aristotelischen Verständnis hat aliéner bei Rousseau die Bedeutung von donner ou vendre. Die Aufgabe der natürlichen Freiheit des Einzelnen zieht eine ihr äquivalente Freiheit auf der Basis eines gleichen und gesicherten Rechtes aller nach sich. In der Aufhebung des rohen Naturzustandes unterwirft sich der Einzelne dem von aller Besonderheit gereinigten allgemeinen Willen.

Für Rousseau lassen sich die Bedingungen des Gesellschaftsvertrages auf eine einzige zurückführen: 

" (...) nämlich auf die vollständige Hingabe jedes Mitgliedes mit allen seinen Rechten an die ganze Gemeinschaft. Denn da sich jeder ganz hingibt, ist die Bedingung erstens für alle gleich und niemand kann ein Interesse daran haben, sie für den anderen drückend zu machen. Da ferner dieses Aufgehen ohne jeden Vorbehalt geschieht, so ist die Vereinigung so vollkommen, wie sie sein kann, und kein Mitglied kann weitere Ansprüche erheben.

     Schliesslich gibt sich jeder an alle und gibt sich somit niemandem; und da man über jedes Mitglied das gleiche Recht erwirbt, das man ihm über sich selbst gewahrt, so gewinnt man das Äquivalent für alles, was man verliert, und mehr Kraft, das zu bewahren, was man hat.

     Befreit man also den Gesellschaftsvertrag von allem Unwesentlichen, so wird man finden. dass er sich auf folgende Formel zurückführen lässt: Jeder von uns stellt seine Person und seine ganze Kraft gemeinschaftlich unter die oberste Leitung des allgemeinen Willens; wir nehmen jedes Mitglied in einen Körper als untrennbaren Teil des Ganzen auf." (Rousseau: 1948: 60f.)

Das ursprüngliche Bei-sich-Sein des lndividuums im reinen Naturzustand fliesst als politische Forderung in den Gesellschaftsvertrag ein, indem es auf die historisch und gesellschaftlich-naturwüchsig eingetretene Entäusserung des Naturzustandes angewiesen ist und zu vermitteln bleibt. (Ritz, in: Ritter, 1972: 514)

Für Rousseau lebt der Mensch der Neuzeit im Widerspruch mit sich selbst – als gesellschaftliches Wesen ist er sich selbst fern. Identität erfährt er jeweils nur im Spiegel der Meinung anderer. In seinen Beschreibungen liefert Rousseau bereits alle Elemente, die für die spätere Diskussion um die Entfremdung bei Hegel und Marx wichtig werden. Die Entäusserung der natürlichen Freiheit zur Verwirklichung der Bürgerfreiheit des Menschen ist hier schon in ihrer dialektischen Aufhebung gedacht. Denn im Verlust der ldentität im Gesellschaftsleben ist die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem widergespiegelt. Auch die Unverzichtbarkeit der Übergangsphase durch die Entfremdung auf eine vollkommenere, da bewusste Daseinsform des Einzelnen findet sich hier angelegt.


2) Georg Friedrich Hegel

Hegel (1770 bis 1831) ist der zentrale Denker der Entfremdung in der Geschichte der Philosophie. In seinem selbst von Spezialisten nur schwer verstehbaren Riesenwerk ist Entfremdung ein grundlegendes Element der dialektischen Geschichtsentwicklung. Diese präsentiert sich Hegel als ein gigantischer Prozess der Selbstverwirklichung der "absoluten Idee" auf dem Umweg über die Sphäre des Andersseins, der Vergegenständlichung der Idee in Natur und Geschichte; im Laufe ihrer Entfaltung hin zur Selbsterkenntnis verwirklicht sich das Selbst in einer dialektischen Bewegung hin zur Einheit mit sich selbst durch die einholende Überwindung der Entäusserung und über den Umweg der "Selbentfremdung". Im Rahmen dieser idealistischen Konstruktion heisst "Entfremdung" aber auch;

" (...) dass die Triebkraft aller Entwicklung innerhalb jener Welt des sich entfremdeten Geistes, das heisst der wirklichen Geschichte, die Arbeit ist, dass die Menschen durch 'Entäusserung' ihrer Wesenskräfte durch ihre gesellschaftliche Praxis ihre Geschichte selbst machen, dass die Arbeit als der Selbsterzeugungsprozess des Menschen begriffen wird, wenn auch unter 'Arbeit' die rein geistige Tätigkeit – im Hinblick auf das absolute Wissen als die Aufhebung der Selbstentfremdung – verstanden wird." (Klaus/Buhr, 1976: 290)

Wenn der Hegelsche Entfremdungsbegriff auch gewisse Vorstellungen von der ökonomischen Entfremdung unter den Bedingungen des Kapitals und von der Fetischierung der gesellschaftlich erzeugten Produkte enthält, interpretiert Hegel im Gegensatz zu Marx jede Art von Vergegenständlichung menschlicher Kräfte im Prozess der Arbeit als Äusserungen der Entfremdung, ohne die spezifischen Bedingungen der materiellen Produktion und die Form ihrer Aneignung zu berücksichtigen.

Entfremdung wird so für die Menschen unter allen Formen gesellschaftlicher Bedingungen zu einem unentrinnbaren Verhängnis. bis sie in einem rein geistig zu verstehenden Akt "aufgehoben" werden kann.

Das Selbst realisiert sich bei Hegel in einem Prozess, in welchem es die Wirklichkeit als durch seine eigene Tätigkeit geschaffenes Sein begreift. So bedeutet Entfremdung wesentlich Selbstentfremdung. Die Praxis, in welcher diese Entfremdung und ihre Aufhebung eingeschlossen sind, vermittelt das Selbst mit seiner substanziellen Wirklichkeit. Dadurch gelangt es in der Zuspitzung und Vollendung seiner Entfremdung zu einem höheren Bewusstsein seiner selbst und erreicht schliesslich die Stufe des vollendeten Selbstbewusstseins.

Zentrale Verwendung findet der Entfremdungsbegriff bei Hegel in der Phänomenologie des Geistes (1807) [25], wo er nicht das Selbstbewusstsein des absoluten Wesens in seinem An- und Für-sich-Sein (Religion) erörtert, sondern den Glauben, insofern er Flucht aus der Wirklichkeit bedeutet.

"Sie (die Welt, U. A.) erhält ihr Daseyn durch die eigene Entäusserung und Entwesung des Selbstbewusstseyns, welche ihm in der Verwüstung, die in der Welt des Rechts herrscht, die äusserliche Gewalt der losgebundenen Elemente anzuthun scheint. Diese für sich sind nur das reine Verwüsten, und die Auflösung ihrer selbst: diese Auflösung aber, diess ihr negatives Wesen ist eben das Selbst; es ist ihr Subjekt, ihr Thun und Werden. Diess Thun und Werden aber, wodurch die Substanz wirklich wird, ist die Entfremdung der Persönlichkeit, denn das unmittelbar, das heisst ohne Entfremdung an und für sich geltende Selbst ist ohne Substanz, und das Spiel jener tobenden Elemente: seine Substanz ist also seine Entäusserung selbst, und die Entäusserung ist die Substanz, oder die zu einer Welt sich ordnenden und sich dadurch erhaltenden geistigen Mächte." (Hegel, 1951: 373f.)

Diese Entfremdung kann aufgehoben werden in der wahrhaft religiösen Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie zu begreifen weiss. Ja, die Überwindung der Entfremdung wird zum höchsten Anspruch und eigentlichen Ziel der philosophischen Erkenntnis, denn erst "die Philosophie begreift die Notwendigkeit in der Reihenfolge der Bewusstseinsgestalten und macht sie zu Momenten einer geordneten Totalität, in der das Wahre und das Ganze zusammenfallen." (Longato, in: Volpi/Nida-Rümelin, 1988: 528)

Die Bewegung des Geistes – Gegenstand seines Selbst zu werden, um dieses Anderssein aufzuheben – stellt sich als Geschichte der Erfahrung und der Gestalten des Bewusstseins dar.

In geschichtsphilosophischer Sicht unterscheidet Hegel die Entwicklung der "organischen Naturdinge" von derjenigen des Geistes, die sich im Durchgang durch die Entfremdung verwirklicht. Da der menschliche Geist seine Bestimmung mit Hilfe seines Bewusstseins und Willens ins Werk setzen muss, hat er das natürliche und unmittelbare Leben als Gegenstand und Zweck. So tritt der Geist gleichsam sich selbst entgegen, mit der historischen Aufgabe betraut, "das feindselige Hindernis seiner selbst zu überwinden" (ebd.).

"Einer Seyts geht das wirkliche Selbstbewusstseyn durch seine Entäusserung in die wirkliche Welt über, und diese in jenes zurück: anderer Seyts aber ist eben diese Wirklichkeit, sowohl die Person, wie die Gegenständlichkeit, aufgehoben; sie sind rein allgemeine. Diese ihre Entfremdung ist das reine Bewusstseyn oder das Wesen. Die Gegenwart hat unmittelbar den Gegensatz an ihrem Jenseits, das ihr Denken und Gedachtes; so wie diess am Diesseits, das seine ihm entfremdete Wirklichkeit ist. Dieser Geist bildet sich daher nicht nur Eine Welt, sondern eine gedoppelte getrennte und entgegengesetzte aus." (Hegel, 1951: 374)

Der Prozess zunehmender Entfremdung und ihre geschichtliche Aufhebung sind zentrale Bestandteile der Hegelschen Lehre. Hegel versteht darunter den Passionsweg von der Zerstörung der antiken Sittlichkeit über die christliche und abstrakt-rechtliche Anerkennung der Person in ihrer Zufälligkeit und Unwesentlichkeit hin zur bürgerlichen Gesellschaft, wo in der Versöhnung durch das unmittelbare Anerkanntsein und Gelten des Selbstbewusstseins in negativer Form die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass diese Gesellschaft die "entfremdende Vermittlung" realisiert, in der das Selbstbewusstsein sich seiner wesentlichen Allgemeinheit gemäss macht und seiner gedachten Substanz Wirklichkeit verleiht.

Als Inbegriff einer entfremdeten Epoche gilt Hegel das Mittelalter, dessen Barbarei die Philosophie als Übergangsstadium durchschaut und so rechtfertigt. Die bürgerliche Gesellschaft schliesslich reisst die Individuen aus den Familienbanden heraus, wodurch sie sich als selbständige Personen konstituieren. Die gesellschaftliche Arbeit hat zur Folge, dass der Mensch von "entfremdeten Gegenständen umgeben" ist, die nicht von ihm hervorgebracht, sondern bereits Bestehendem entnommen sind, durch andere Menschen vorwiegend mechanisch produziert und erst am Ende einer langen Reihe von Anstrengungen zu ihm gelangen.

In der Gegenwart hat nichts mehr einen in ihm selbst begründeten und innewohnenden Geist: dieser ist ausser sich in einem fremden Zustand – das "Gleichgewicht des Ganzen" ist nicht die bei sich selbst bleibende Einheit und ihre in sich zurückgekehrte Beruhigung, sondern beruht auf der Entfremdung des Entgegengesetzten. ln der sich ausbildenden Individualität, die dem Selbstbewusstsein als unmittelbar entfremdete entgegentritt, wird dieses zugleich überwunden. Die Bewegung der Aufklärung verstrickt die entfremdete Bildung auch in einen Kampf mit dem Aberglauben – der "Himmel" wird gewissermassen auf die Erde heruntergeholt. Der daraus entstehende Wunsch nach absoluter Freiheit und Gleichheit schlägt dann in der Französischen Revolution notwendig in den jakobinischen Terror um, da dem Absoluten immer andere Personen im Weg stehen, die beseitigt werden müssen. Daraus ist als Konsequenz die Einsicht abzuleiten, dass die Entfremdung als Selbstentfremdung zu verstehen ist, die nur in der vernünftigen Entäusserung des Selbst aufgehoben werden kann.

Die Mitte zwischen den Extremen entspricht nach Hegels Auffassung dem "absoluten Wissen", in dem die Entfremdung endgültig aufgehoben wird durch eine Säkularisierung christlicher Theologie, welche sich nicht in den Dienst einer Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden stellt und den Unterschied zwischen "Himmel" und "Erde" bestehen lässt.

"Die bürgerliche Entfremdung und die zu ihr gehörige Bildung zur 'allgemeinen Individualität' haben die positive Bedeutung, dass mit der Unmöglichkeit der Rückkehr zu natürlicher Unschuld der Geist 'aus seiner Verwirrung als Geist zu sich zurückkehre, und ein noch höheres Bewusstsein gewinne'." (Ritz, in Ritter, 1972: 516)

Wie Pascal das Problem der kosmologischen Entfremdung zu lösen versucht, unternimmt dies Hegel für die politische Entfremdung: durch die religiös begründete Selbstbeschränkung der Freiheit.


3) Ludwig Feuerbach

Feuerbach (1804 bis 1872) kritisiert Hegels Entfremdungsbegriff in seiner Herausgelöstheit aus dem konkreten, unmittelbar naturwüchsigen Leben. Er selbst reduziert "Entfremdung" radikal auf den anthropologischen Sachverhalt der Selbstentfremdung des Menschen durch die Tätigkeit seines eigenen Bewusstseins. Sie bedeutet die Trennung des begrifflichen Denkens und Wesens der Menschen von seiner subjektiven Existenz in der gegenständlich-sinnlichen Anschauung.

Diese Trennung kann in Form der logischen Abstraktion von der subjektiven Bestimmtheit geschehen oder in Form der Fantasie, die in der jüdisch-christlichen Religion dem Menschen sein Wesen als übernatürliche, weltschöpferische und gebietende göttliche Tätigkeit gegenübersteht.

So heisst es bei Feuerbach in Das Wesen des Christentums (1841) an zentraler Stelle:  

"Gott ist das ab- und ausgesonderte subjektivste, eigenste Wesen des Menschen, also kann er nicht aus sich handeln, also kommt alles Gute aus Gott. Je subjektiver, je menschlicher Gott ist, desto mehr entäussert der Mensch sich seiner Subjektivität, seiner Menschheit, weil Gott an und für sich sein entäussertes Selbst ist, welches er aber doch zugleich sich wieder aneignet. (...) Gott nur ist das aus sich handelnde, aus sich tätige Wesen – dies ist der Akt der religiösen Repulsionskraft: Gott ist das in mir, mit mir, durch mich, auf mich, für mich handelnde Wesen, das Prinzip meines Heils, meiner guten Gesinnung und Handlungen, folglich mein eignes gutes Prinzip und Wesen –, dies ist der Akt der religiösen Attraktionskraft." (Feuerbach, 1969: 78)

Die Entwicklung der Religion vollzieht sich nach Feuerbach in dem Sinne, "dass der Mensch immer mehr Gott ab-, immer mehr sich zuspricht" (ebd.). Zu Beginn der Geschichte setzt der Mensch alles unterschiedslos ausser sich und nimmt diese Setzung nach und nach wieder in sich zurück: 

"So ändern sich die Dinge. Was gestern noch Religion war, ist es heute nicht mehr, und was heute für Atheismus, gilt morgen für Religion." (ebd.: 79)

 ln der Religion sieht Feuerbach die Entzweiung des Menschen mit sich selbst. Gott erscheint als dem Menschen entgegengesetztes Wesen.

"Aber der Mensch vergegenständlicht in der Religion sein eigenes geheimes Wesen. Es muss also nachgewiesen werden, dass dieser Gegensatz, dieser Zwiespalt von Gott und Mensch, womit die Religion anhebt, ein Zwiespalt des Menschen mit seinem eignen Wesen ist." (ebd.: 80)

Gott kann nur in der Verabsolutierung menschlicher Eigenschaften vorgestellt werden. Die Einheit des Verstandes ist für Feuerbach die Grundlage für die Einheit Gottes, denn "dem Verstande ist das Bewusstsein seiner Einheit und Universalität wesentlich, er ist selbst nichts andres, als das Bewusstsein seiner als der absoluten Einheit". (ebd.: 90).

"Der Mensch will in der Religion sich befriedigen; die Religion ist sein höchstes Gut. Aber wie könnte er in Gott Trost und Frieden finden, wenn Gott ein wesentlich andres Wesen wäre? (...) Friede empfindet alles, was lebt, nur in seinem eignen Element, nur in seinem eignen Wesen. Empfindet also der Mensch Frieden in Gott, so empfindet er ihn nur, weil Gott erst sein wahres Wesen, weil er hier erst bei sich selbst ist, weil alles, worin er bisher Frieden suchte und was er bisher für sein Wesen nahm, ein andres, fremdes Wesen war. Und soll und will daher der Mensch in Gott sich befriedigen, so muss er sich in Gott finden." (ebd.: 96)

Die Inhalte der Religion des Menschen stellen für Feuerbach demnach nur Projektionen seines eigenen, idealistischen Selbst dar, die im Laufe der Geschichte erkannt und zurückgenommen werden. ln diesem Prozess – der Verwandlung von Theologie in Anthropologie – erwacht der Mensch aus seiner kindlichen Abhängigkeit von den eingebildeten Tröster Religion und beginnt seine eigenen Kräfte zu verwirklichen. Dadurch wird ein schönes, glückliches und von blinder Zufälligkeit befreites Dasein möglich. Gott ist nur das von den Schranken im Fühlen und Denken gereinigte Wesen des Menschen. Als Jenseits erscheint das vom Übel befreite Diesseits.

"Das Jenseits ist das Gefühl, die Vorstellung von den Schranken, die hier das Selbstgefühl, die Existenz des Individuums beeinträchtigen.

   Der Gang der Religion unterscheidet sich nur dadurch von dem Gang des natürlichen oder vernünftigen Menschen, dass sie den Weg, welchen dieser in der geraden als der kürzesten Linie macht, in einer krummen, und zwar der Kreislinie, beschreibt. Der natürliche Mensch bleibt in seiner Heimat, weil es ihm hier wohlgefällt, weil er vollkommen befriedigt ist: die Religion, die in einer Unzufriedenheit, einer Zwietracht anhebt, verlässt die Heimat, geht in die Ferne, aber nur um in der Entfernung das Glück der Heimat um so lebhafter zu empfinden. Der Mensch trennt sich in der Religion von sich selbst, aber nur, um immer wieder auf denselben Punkt zurückzukommen, von dem er ausgelaufen. Der Mensch verneint sich, aber nur um sich wieder zu setzen, und zwar jetzt in verherrlichter Gestalt. So verwirft er auch das Diesseits, aber nur um am Ende es als Jenseits wieder zu setzen. Das verlorene aber wiedergefundene und in der Freude des Wiedersehens um so heller strahlende Diesseits ist das Jenseits." (ebd. 279f.; meine Hervorh.)

4) Bruno Bauer

Die Junghegelianer, als deren radikalster Denker Bauer (neben Feuerbach) hier vorgestellt wird, waren eine locker verbundene Gruppe kritischer Intellektueller (die meisten von ihnen Studenten und Doktoren aus den Fachbereichen Theologie, Recht und Philosophie), die sich in Berlin im "Doctorenclub" oder in der Gruppe der "Freien" regelmässig trafen und hitzige Debatten führten. Sie kennzeichnet allgemein die Übernahme von Hegels Grundfigur der Entfremdung und ihrer Aufhebung als Legitimation ihrer vorwiegend politisch ausgerichteten Kritik. Für Marx, der 1837 zum "Doctorenclub" stiess, wurde sie zu einem bedeutenden geistigen Anstoss.

Feuerbachs Entfremdungkonzept, das bei den Junghegelianern in seiner kritischen Wendung gegen das Hegelsche Bollwerk allgemeine Begeisterung auslöste, wurde von Bruno Bauer (1809 bis 1592) radikalisiert, vor allem in seiner in der Schweiz gedruckten und  beschlagnahmten Schrift Das entdeckte Christentum (1843, veröffentlicht erst 1927), in der Bauer den religionskritischen naturalistischen Ansatz Feuerbachs durch eine geschichtliche Interpretation des Selbstbewusstseins zu überwinden suchte.

"Die Furcht der Unfreiheit, das gedrückte Gefühl, welches der Menschheit, der Gattung und dem Selbstbewusstsein nicht etwa bloss misstraut, sondern auch nicht den Mut hat, sich zum Gedanken der Menschheit und der Allgemeinheit des Selbstbewusstseins zu erheben, das Leiden, welches dem Gesetze der Natur und der Geschichte misstraut, bilden das Wesen und den Ursprung der Religion." (Bauer, 1927: 94)

Entfremdung sieht Bauer hauptsächlich in der epochalen Funktion der jüdisch-christlichen Religion, die Realisierung des menschlichen Selbstbewusstseins und die Emanzipation des historischen Wissens des Menschen aufzuhalten und seine Entwicklung zum Subjekt der Geschichte zu verhindern.

"(...) die Religion ist die fixierte, angeschaute, gemachte, gewollte und zu seinem Wesen erhobene Passivität des Menschen, das höchste Leiden, das er sich selbst zufügen konnte, die Furcht des Menschen und die Armut und Leerheit des Geistes, die zu seinem Wesen erhoben ist, das Unglück der Welt, das als ihr Wesen angeschaut, gewollt und fixiert ist.  
    Die vollendete Religion ist das vollendete Unglück der Welt." (ebd.: 95)

Bauers Entfremdungsbegriff bezieht sich zum einen auf die Fesselung und Vereinzelung der Menschen in den objektiven, gesellschaftlich-sittlichen Verhältnissen durch das religiöse Bewusstsein, zum andern auf den mit der Einschränkung der praktischen Freiheit gegebenen völligen Selbstverlust des Menschen an die "Illusionen" seines schöpferischen Selbstbewusstseins.

"Wo der Mensch an der Grenze seines Witzes ankommt und nur eine zufällige, höchstens geschichtliche Grenze seines Verstandes finden sollte, eine Grenze, die nur ihm und der Geschichte angehört, die also auch der Entwicklung seiner Kräfte, dem Fortschritt der Gattung und der Geschichte weichen wird, da sieht er den Anfang eines Wesens, welches er nicht selber ist. Als ob die Schranke nicht allein ihm und der Menschheit angehörte und nur in diesem Augenblick ihn auf diesen Standpunkte von seinem eigenen Wesen und von der fortschreitenden Menschheit absonderte! Was drüber ist, bist du selbst und ist die Gattung. Nur Geduld, die Geschichte wird es dir beweisen!" (ebd.)

So sieht Bauer in Gott letztlich nur den "dem Menschen" entfremdeten Menschen, was ihn zu einer humanistischen Religionskritik führt, die auf die geschichtlich entfaltete Autonomie des Menschen rekurriert und auf einen neuen Lösungsansatz für die sittliche, moralische und institutionelle Praxis der Gesellschaft abzielt.

"Die neuere Kritik hat den Menschen endlich zu sich selbst gebracht, sie hat ihn sich selbst kennen lehren, die Menschen von ihren lllusionen befreit und das Selbstbewusstsein als die einzige und schöpferische Macht des Universums – als das Universum selbst kennen gelernt. Und sie soll daran denken, den Menschen zu vergöttern, das heisst sich selbst zu entfremden, und ihn dazu anleiten, sein chimärisches, aufgeblasenes, entstelltes Abbild anzubeten?    

   Sie hat vielmehr bewiesen, dass gerade in der Religion der Mensch sich selbst vergöttert, das heisst sich selbst verloren hat und seinen Verlust anbetet.
    (...) denn Gott ist ja nur der den Menschen entfremdete Mensch und kann als solcher dennoch nicht von der Menschheit lassen. ( ...)
    Aber in jedem Falle ein phantastischer, chimärischer Mensch! Ein Mensch, in welchem die Unendlichkeit des Selbstbewusstseins, die sich nur in der Geschichte verwirklicht, in ein Individuum zusammengezogen ist, ein Mensch, der von vorn herein Alles, d. h. Nichts kann; ein Mensch, der als die persönliche Allmacht gar Nichts vermag." (ebd.: 156; meine Hervorh.)

5) Moses Hess

Die Erweiterung des Entfremdungsgedankens auf soziale und ökonomische Erscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft ist wesentlich Moses Hess (1812 bis 1875) zu verdanken; dabei greift er auf Feuerbachs anthropologische Religionskritik zurück, um aus ihr eine sozialistische Gesellschaftskritik abzuleiten. Sein Ausgangspunkt ist die Frage nach den sozialen Formen, in denen sich die religiöse und philosophische Entfremdung ausdrückt:

"Eine Notwendigkeit in der menschheitlichen Entwicklung, in der Bildungs- oder Naturgeschichte, notwendig in der Schöpfungsgeschichte der Menschen, ist ihre gegenseitige Zerstörung, welche hervorgeht aus dem Widerspruchs ihres Verkehrs innerhalb ihrer Vereinzelung. – Die Entstehungsgeschichte des humanen Wesens oder der Menschheit erscheint zunächst als Selbstzerstörung dieses Wesens. Die Menschen opferten sich schon ihren himmlischen und irdischen Götzen, lange bevor es noch eine himmlische und irdische, religiöse und politische Ökonomie gab, die es rechtfertigte." (Hess, 1921: 162)

Weil die Menschen sich anfänglich nur als vereinzelte Individuen erhalten und nicht als Glieder eines organischen Ganzen, der Menschheit, zerstören sie sich gegenseitig. Hätte ein solches organisiertes menschliches Zusammenwirken schon zu Beginn der Menschheitsgeschichte stattgefunden, so wäre diese Phase der rohen Gewalt und des raffinierten Betruges unnötig gewesen –

" (...) so hätten sie ihre geistigen und materiellen Güter nicht ausser sich zu suchen nötig gehabt, so hatten sie sich durch sich selbst ausbilden, nämlich ihre Fähigkeiten in Gemeinschaft betätigen können. Das heisst aber so viel wie: Kamen die Menschen als ausgebildete humane Wesen zur Welt, so brauchten sie keine Bildungsgeschichte durchzumachen. Mit anderen Worten: Hätte die Menschheit nicht mit vereinzelten Individuen begonnen, hatte sie die egoistischen Kämpfe um ihre noch fremden und äusserlichen Güter nicht durchzukämpfen gehabt." (ebd.)

So versteht Hess die moderne "Krämerwelt" als das realisierte Wesen des Christentums. Die Entfremdung ist für Hess in der Isolierung des Menschen angelegt. Die Abstraktion von der wirklichen und lebendigen Kommunikation zwischen den Menschen sieht er im Geld als Tauschwert der Zirkulationssphäre des Warenhandels konkretisiert.

In seinen feurigen Schriften betont der "Jünger Spinozas" zwar die geschichtliche Funktion der Entfremdung; aber der aktuelle Stand des Überflusses an materiellen Lebensgrundlagen dient ihm als Basis für eine vehemente ethisch-moralische Kritik an der Entfremdung als Herrschaft über die materiellen Bedürfnisse im Egoismus der Konkurrenz.  

Hess erkennt die geschichtstreibende Kraft der ökonomischen Verhältnisse, aber er lehnt die sozialistische Lösung als "Magenfrage" völlig ab. Sozialismus ist für ihn eine Sache des ethischen und praktischen Idealismus, die durch den sittlichen Menschen zu gewährleisten ist. Nach seiner Überzeugung müssen die gesellschaftlichen Verhältnisse revolutionär überwunden werden, wodurch die historischen Versprechungen eines Gelobten Landes, des Neuen Jerusalem, eingelöst werden.

"Die Gesellschaft wird einen so unbeschreiblichen Überfluss an Kräften haben, dass sie Wunderbares schafft. Es wird dem Staate Nichts unmöglich seyn, weil er nicht mehr vom Egoismus seiner Glieder abhängig ist: und die Glieder werden sich frei und lebendig regen konnen, weil sie von keinem ängstlichen Haupte mehr gehemmt, sondern vom Ganzen unterstützt werden; es wird Jedes seine höchste Thätigkeit entfalten, weil Eines dem Andern nicht mehr im Wege steht." (Hess, 1960: 325)

 

6) Karl Marx (und Friedrich Engels)

Marx (1818 bis 1883), dessen Frühschriften gleichfalls gegen das übermächtige Gedankengebäude Hegels gerichtet sind, wirft in seinen Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten (1844; veröffentlicht 1932) diesem vor, die Entfremdung nur als eine des reinen Selbstbewusstseins zu betrachten, sie nur als eine rein gedankliche und philosophische begreifen zu können. [26]

Erst allmählich, in der Radikalisierung der Feuerbachschen Religionskritik, erhält Entfremdung bei ihm eine begriffliche Bestimmung. Sein Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass Feuerbach mit seiner Religionskritik "die Heiligengestalt" der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt habe und dass nun die Selbstentfremdung in ihren "unheiligen Gestalten" aufzudecken sei, da ja gemäss Feuerbach die Religion als jenseitige Kompensation diesseitiger Entfremdung zu verstehen sei.

In der Verbindung mit Rousseaus politischer Kritik der Neuzeit – der modernen politischen Entzweiung von Individuum und politisch Allgemeinem – kann durch die Aufhebung der diesseitigen Entfremdung das Glück des Einzelnen und das Glück für die Gemeinschaft (die Polis im Sinne von Aristoteles) verwirklicht werden. Die Religion als Inbegriff menschlicher Selbstentfremdung wird überflüssig, wenn der Mensch erst einmal zum "Gattungswesen" geworden ist.

"Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum, andererseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person.

   Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine 'forces propres' als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht." (Marx, 1971: 199)

Das Grundanliegen von Marx (und Engels) liegt in der Entschleierung der den Entfremdungsphänomenen zugrunde liegenden gesellschaftlichen Ursachen. In der Wendung gegen Feuerbach (Thesen über Feuerbach, 1845/46) verdeutlicht Marx, dass eine nur bewusstseinspraktische Religionskritik zur Auflösung der Entfremdung nicht genügt. Erst die Analyse der objektiven ökonomischen Verhältnisse der Gesellschaft (besonders der kapitalistischen Produktionsverhältnisse) und der ihnen entsprechenden Formen des Bewusstseins führt zur Erkenntnis des historischen Charakters der Entfremdung und entlarvt das Privateigentum an den Produktionsmitteln als entscheidende soziale Basis für sie.

So ist die grundlegende Entfremdung des Menschen für ihn jene des Arbeiters von seinem Produkt. Marx überträgt das Herr-Knecht-Verhältnis der Hegelschen Phänomenologie des Geistes auf das Verhältnis von Kapital und Arbeit. Unter kapitalistischen Bedingungen kann der Warencharakter der Arbeitskraft nicht aufgehoben werden und bedeutet den Selbstverlust des Arbeiters, seine Selbstentfremdung,

Vergegenständlichung ist eine generelle Eigenschaft der Arbeit. Durch sie wird die menschliche Praxis mit der Umwelt vermittelt. Entfremdung der Arbeit ist hingegen eine Folgeerscheinung vor allem der kapitalistischen Lohnarbeit, der Tatsache, dass im Kapitalismus dem Arbeiter die Produktionsmittel und die Produkte seiner eigenen Arbeit als fremde, unabhängige Macht gegenüberstehen. [27]

Arbeit ist für Marx wesentlich Entäusserung des Wesens des Menschen. In der Bearbeitung der Natur ist sie aber gleichzeitig auch Aneignung der sinnlichen Aussenwelt als Synthese, welche die objektive wie subjektive Natur des Menschen hervorbringt. ln der entfremdeten Arbeit wird dieses Verhältnis zerstört und in ihr Gegenteil verkehrt, nach den Gesetzen der bürgerlichen Nationalökonomie. Die dem Arbeiter in fremder Gegenständlichkeit, ja Feindseligkeit begegnenden Produkte der Arbeit setzen sein Wesen zum Mittel ihrer und seiner Existenz herab.

Als Folge der industriellen Revolution entwickelt sich die in früheren Zeiten noch weniger einschneidende Möglichkeit zu kaufen und zu verkaufen zu einem Kampf auf Leben und Tod, dadurch wird die Gesellschaft in ihrer Haupttendenz in zwei Klassen gespalten: die Besitzer von Kapital und Produktionsmitteln einerseits und die Arbeiter, die nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben, anderseits.

Die Angehörigen der Arbeiterklasse sind so gesehen einer vierfachen Entfremdung ausgesetzt: (a) der Entfremdung von sich selbst, von ihren eigenen Lebenskräften, die in erster Linie dazu da sind, verkauft zu werden; (b) der Entfremdung von ihren Arbeitsmittel und Produkte, die im Besitze anderer sind; (c) der Entfremdung voneinander innerhalb ihrer Klasse, da sie im Kampf um den zu vergebenden Lohn auch untereinander konkurrieren müssen: (d) der Entfremdung der Klassen voneinander, die für die ökonomisch benachteiligte Klasse auch unter den Bedingungen formeller bürgerlicher Gleichheit politische und rechtliche Unterdrückung bedeutet. Entfremdung ist aber auch bei den Besitzern der Produktionsmittel gegeben: a) Entfremdung untereinander im Konkurrenzkampf, bei dem es vor allem um ihren Klassenerhalt geht; b) Entfremdung von der anderen Klasse, der Arbeiterschaft.

Die Gesellschaft wird bestimmt vom Verhältnis der Menschen zu den Dingen. Statt Mittel menschlicher Bedürfnisbefriedigung zu sein (Gebrauchsfunktion), werden sie zu Mitteln des Konkurrenzkampfes aller gegen alle (Tauschfunktion). Der Tauschwert der Ware verselbständigt sich, und die Warenbeziehung wird so zur universalen Beziehung des Individuums zu andern und zu sich selbst.

Für Marx ist das Eigentum an den Produktionsmitteln und am Kapital der archimedische Punkt, von dem aus das ganze kapitalistische System aus den Angeln gehoben werden kann.

"Wir haben also jetzt den wesentlichen Zusammenhang zwischen dem Privateigentum, der Habsucht, der Trennung von Arbeit, Kapital und Grundeigentum, von Austausch und Konkurrenz, von Wert und Entwertung der Menschen, von Monopol und Konkurrenz etc. von dieser ganzen Entfremdung mit dem Geldsystem zu begreifen." (MEGA, 3.1: 82)

Marx stellt fest, dass der Arbeiter um so ärmer wird, je mehr Reichtum er produziert:

"Der Arbeiter wird eine um so wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft. Mit der Verwertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. Die Arbeit produziert nicht nur Waren: sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware, und zwar in dem Verhältnis, in welchem sie überhaupt Waren produziert.

    Dies Faktum drückt weiter nichts aus als: Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung. Diese Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Entäusserung." (ebd.: 82f.)

Der Arbeiter wird in seinem Tun bis zum Hungertod hin entwirklicht, denn in seiner Vergegenständlichung ist er selbst der lebensnotwendigsten Gegenstände beraubt. Sogar der Arbeit selbst kann er sich oft nur mit Unterbrechungen und mit grösster Anstrengung bemächtigen. So hat diese unter kapitalistischen Verhältnissen den Charakter eines Teufelskreises: je mehr Gegenstände der Arbeiter produziert, um so weniger kann er besitzen und um so mehr gerät er unter die Herrschaft des von ihm geschaffenen Produkts, des Kapitals.

"In der Bestimmung, dass der Arbeiter zum Produkt seiner Arbeit als einem fremden Gegenstand sich verhält, liegen alle diese Konsequenzen. Denn es ist nach dieser Voraussetzung klar: Je mehr der Arbeiter sich ausarbeitet, um so mächtiger wird die fremde, gegenständliche Welt, die er sich gegenüber schafft, um so ärmer wird er selbst, seine innere Welt, um so weniger gehört ihm zu eigen. Es ist ebenso in der Religion. Je mehr der Mensch in Gott setzt, je weniger behält er in sich selbst. Der Arbeiter legt sein Leben in den Gegenstand; aber nun gehört es nicht mehr ihm, sondern dem Gegenstand. Je grösser also diese Tätigkeit, um so gegenstandsloser ist der Arbeiter. Was das Produkt seiner Arbeit ist, ist er nicht. Je grösser also dies Produkt, je weniger ist er selbst. Die Entäusserung des Arbeiters in seinem Produkt hat die Bedeutung, nicht, dass seine Arbeit zu einem Gegenstand, zu einer äusseren Existenz wird, sondern dass sie ausser ihm, unabhängig, fremd von ihm existiert und eine selbständige Macht ihm gegenüber wird, dass das Leben, was er dem Gegenstand verliehn hat, ihm feindlich und fremd gegenübertritt." (ebd.: 83f.)

Nach den von Marx analysierten nationalökonomischen Gesetzen hat der Arbeiter mit zunehmender Produktion immer weniger zu konsumieren. Je mehr Werte er schafft, um so wertloser wird seine Existenz, je mächtiger die Arbeit, um so ohnmächtiger wird der Arbeiter. Diese Entfremdung im Wesen der Arbeit kommt in der klassischen Nationalökonomie nicht zum Vorschein, weil diese das unmittelbare Verhältnis zwischen Arbeiter und Produktion nicht zu reflektieren vermag,

"Allerdings, die Arbeit produziert Wunderwerke für die Reichen, aber sie produziert Entblössung für den Arbeiter. Sie produziert Paläste, aber Höhlen für den Arbeiter. Sie produziert Schönheit, aber Verkrüppelung für den Arbeiter. Sie ersetzt die Arbeiter durch Maschinen, aber sie wirft einen Teil der Arbeiter zu einer barbarischen Arbeit zurück und macht den andern Teil zur Maschine. Sie produziert Geist, aber sie produziert Blödsinn, Kretinismus für den Arbeiter." (ebd.: 85)

Entfremdung zeigt sich für Marx aber nicht nur im Verhältnis zu den Produkten der Arbeit, sondern auch im Akt der Produktion, in der produzierenden Tätigkeit.

"Wie würde der Arbeiter dem Produkt seiner Tätigkeit fremd gegenübertreten können, wenn er im Akt der Produktion selbst nicht sich selbst entfremdete: Das Produkt ist ja nur das Resumé der Tätigkeit, der Produktion. Wenn also das Produkt der Arbeit die Entäusserung
ist, so muss die Produktion selbst die tätige Entausserung, die Entäusserung der Tätigkeit, die Tätigkeit der Entäusserung sein. In der Entfremdung des Gegenstandes der Arbeit resümiert sich nur die Entfremdung, die Entäusserung in der Tätigkeit der Arbeit selbst." (ebd.)

Diese Entäusserung besteht einerseits darin, dass die Arbeit dem Arbeiter äusserlich ist, also nicht zu seinem Wesen gehört, dass er sich in seiner Arbeit verneint, seinen Körper verkümmern lässt und seinen Verstand ruiniert, zum andern darin, dass sie nicht freiwillig geschieht, sondern Zwangsarbeit ist, nicht zur Befriedigung eines Bedürfnisses dient, sondern nur als Mittel zur Befriedigung seiner Bedürfnisse ausserhalb der Arbeit. Schliesslich gehört die Arbeit nicht dem Arbeiter selbst, sondern wird von einem andern angeeignet, sie ist nicht seine eigene Tätigkeit, nicht Selbsttätigkeit, sondern Verlust seiner selbst, so dass der Arbeiter freie Tätigkeit letztlich nur noch in seinen tierischen Funktionen erlebt.

Als weitere Faktoren kommen die Entfremdung des Arbeiters von seinem Gattungswesen und schliesslich jene des Menschen von seinen Mitmenschen hinzu. 

Bis zum Kapital (3 B#nde, 1867 bis 1894) geht es Marx wesentlich darum, die materiellen Ursachen der Entfremdung und deren Beseitigung durch die sozialistische Revolution darzulegen. Allerdings erscheint der Entfremdungsbegriff in seinen ökonomischen Schriften nur noch sporadisch. (Den Grund dafür sieht Fromm darin, dass der von Marx herausgearbeitete Sachverhalt in der ökonomischen Theorie nun systematisch und nicht mehr direkt im Rückbezug auf eine allgemeine geschichtsphilosophische und anthropologische Theorie aufgefasst wird.) [28]

Die Grundlage der Entfremdung in der als Klassengesellschaft erkannten Sozietät liegt allgemein gesagt in der Spontaneitat der gesellschaftlichen Entwicklung. Gemeint ist damit, dass die Menschen den gesellschaftlichen Prozess auf Grund des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln und der sich daraus ableitenden gesellschaftlichen Verhältnisse nicht bewusst und planmässig regulieren können und so nicht die Herren ihres Produkts sind; sie können die Konsequenzen ihres eigenen gesellschaftlichen Handelns nicht einmal durchschauen.

Bezeichnend für die Klassengesellschaft sind Entfremdungserscheinungen aufgrund von Ausbeutung und Unterdrückung der Menschen. Die kapitalistische Warenproduktion bedeutet den Höhepunkt im menschlichen Entfremdungsprozess. ln ihr herrscht die tote Arbeit als Kapital über die lebendige Arbeit der produzierenden Arbeiter. Die Resultate der Tätigkeit des Arbeiters und die Eigenschaften der gesellschaftlichen Arbeit (Arbeitsteilung, Kooperation, Wissenschaft usw.) treten als Eigenschaften des Kapitals auf und wirken als Mittel der Ausbeutung und Unterjochung des Arbeiters.

Der Imperialismus verstärkt diesen Prozess der Entfremdung noch. Im politischen Bereich entwickelt sich eine den breiten Volksschichten entgegengestellte allmächtige Bürokratie und eine militarisierte Staatsmaschinerie. Die historische Lösung des Entfremdungsproblems sieht Marx im Aufstand des Proletariats, das unter der ökonomischen Entfremdung als Wurzel aller andern Entfremdungsweisen bis an die Grenze der körperlichen Existenzmöglichkeit leidet. lm historischen Prozess erkennt es seine gemeinsamen Interessen, solidarisiert sich im Klassenkampf und übernimmt die Produktionsmittel und die wirtschaftliche Führung selbst. Nach dem Sieg über das Kapital baut der kämpferische Teil der Arbeiterschaft eine friedliche, kommunistische Gesellschaft auf, in der die Klassengegensätze nun endgültig überwunden sind. [29]

Unter kapitalistischen Bedingungen schafft dle industrielle Produktion die materiellen Voraussetzungen für die totale, universelle Entwicklung der Produktivkräfte. Die Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse bedeutet nach Marx den Schritt zur Überwindung der Ausbeutung und Entfremdung, wobei diese Veränderung durch die Entwicklung der Produktivkräfte selbst angebahnt wird.

"Die materialistische Anschauung der Geschichte geht von dem Satz aus, dass die Produktion, und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist; dass in jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft die Verteilung der Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände, sich danach richtet, was und wie produziert und wie das Produzierte ausgetauscht wird." (Engels, MEW, Bd. V: 292f.) [30]

Die letzten Ursachen der gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen sind daher nicht in der zunehmenden Einsicht der Menschen in die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit zu sehen, sondern in den Veränderungen der Produktions- und Austauschweise, in der Ökonomie und nicht in der Philosophie.

"Damit ist zugleich gesagt, dass die Mittel zur Beseitigung der entdeckten Missstände ebenfalls in den veränderten Produktionsverhältnissen selbst – mehr oder minder entwickelt – vorhanden sein müssen. Diese Mittel sind nicht etwa aus dem Kopf zu erfinden, sondern vermittelst des Kopfes in den vorliegenden materiellen Tatsachen der Produktion zu entdecken." (ebd.: 293) [31]

7) Nachmarxsche Entfremdungsdiskussion

Die neuere Diskussion um den Entfremdungsbegriff ist weitgehend eine erneute Aktualisierung der Diskussionen zwischen Hegel, den Junghegelianern und Marx. Einerseits geht es um den Protest der Subjektivität, um die Verteidigung des Autonomieanspruches gegenüber der gesellschaftlichen Tätigkeit, auf dem Erfahrungshintergrund von persönlicher Ohnmacht, anderseits um das Gewinnen eines theoretischen Standpunktes, von dem aus eine reformierende oder revolutionäre Politik abgeleitet werden kann. 

Innerhalb der marxistischen Kreise wird die Entfremdungsdiskussion zuerst 1923 bei Karl Korsch (1886 bis 1961) und Georg Lukács (1885 bis 1971) aufgenommen, im Versuch, die revolutionäre Kritik am Kapitalismus philosophisch durch die Analyse des Funktionswandels der Dialektik von Hegel zu Marx zu erneuern. Im berühmten Werk Geschichte und Klassenkampf (1923) identifiziert Lukács allerdings "Entfremdung" und "Vergegenständlichung" ("Verdinglichung), was zumindest mit Hegels Ansatz nicht vereinbar ist. Das objektive gesellschaftliche Verhältnis der Entfremdung und in der Folge die subjektive Wahrnehmung dieser entsteht dann, wenn die Vergegenständlichung bewirkenden Formen der Gesellschaft bestimmte Funktionen erhalten, die das "Wesen" des Menschen mit seinem "Sein" in einen Konflikt bringen. In der Auflösung dieser objektivierenden Formen durch das historische Subjekt, das Proletariat, wird die Entfremdung überwunden.

" (...) im gesellschaftlichen Sein des Proletariats tritt der dialektische Charakter des Geschichtsprozesses, demzufolge der vermittelte Charakter eines jeden Moments, das seine Wahrheit, seine echte Gegenständlichkeit erst in der vermittelten Totalität erhält, unabweisbarer zu Tage. Für das Proletariat ist es die Frage von Gedeihen und Verderben, sich über das dialektische Wesen seines Daseins bewusst zu werden, während die Bourgeoisie die dialektische Struktur des Geschichtsprozesses im Alltagsleben mit den abstrakten Reflexionskategorien der Quantifizierung, des unendlichen Progresses usw. verdeckt, um dann in den Momenten des Umschlagens unvermittelte Katastrophen zu erleben." (Lukacs, 1986: 290)

Grossen Aufschwung erlangt die Diskussion über den Marxschen Entfremdungsbegriff wie erwähnt 1932 mit der Veröffentlichung der sogenannten Pariser Manuskripte (Ökonomisch-Philosophische Schriften) aus der Feder von Karl Marx. So kritisiert der Heidegger-Schüler Herbert Marcuse (1898 bis 1979) den bestehenden "Historischen Materialismus" und dessen unflexiblen Ökonomismus.

"Es ist von äusserster Wichtigkeit festzustellen, dass Marx die Abschaffung des Privateigentums ausschliesslich als Mittel zur Abschaffung der entfremdeten Arbeit ins Auge fasste und nicht als Selbstzweck. Die Sozialisierung der Produktionsmittel ist als solche bloss eine ökonomische Institution. Ihr Anspruch, der Beginn einer neuen Gesellschaftsordnung zu sein, hängt davon ab, was der Mensch mit den sozialisierten Produktionsmitteln tut. Werden diese nicht für die Entwicklung und Befriedigung des freien Individuums nutzbar gemacht, so werden sie einfach auf eine neue Form hinauslaufen, die Individuen einem hypostasierten Allgemeinen zu unterwerfen. Die Abschaffung des Privateigentums leitet nur dann ein wesentlich neues soziales System ein, wenn die freien Individuen zu den Herren der sozialisierten Produktionsmittel werden und nicht 'die Gesellschaft'." (Marcuse 1985: 249f.)

Später stellt Marcuse die Anwendbarkeit des Entfremdungsbegriffes auf die Gegenwart grundsätzlich in Frage:

"Wenn (...) in einem philosophischen Text oder in philosophischer Rede das Wort 'Substanz', 'Idee', 'Mensch', 'Entfremdung' zum Subjekt eines Satzes wird, so findet keine derartige Transformation der Bedeutung in eine Verhaltensreaktion statt, noch ist sie intendiert. Das Wort bleibt sozusagen unerfüllt – ausgenommen im Denken, wo es das Entstehen anderer Gedanken bewirken kann. Und auf dem Weg einer langen Reihe von Vermittlungen innerhalb eines geschichtlichen Kontinuums kann der Satz helfen, eine Praxis auszubilden und anzuleiten. Aber selbst dann bleibt der Satz unerfüllt – nur die Hybris des absoluten Idealismus behauptet die These einer letztlichen Identität zwischen dem Denken und seinem Objekt.

   (...) Aus dieser Position betrachtet, werden die oben angeführten Beispiele der Sprachanalyse als angemessene Gegenstände einer philosophischen Analyse anfechtbar." (Marcuse, 1987: 193f.)

Bei Martin Heidegger (1889 bis 1976) erscheint der Entfremdungsbegriff in Sein und Zeit (1927) und besonders prägnant in seinem "Humanismus-Brief" aus dem Jahr 1947:

"Die Heimatlosigkeit wird ein Weltschicksal. Darum ist es nötig, dieses Geschick seinsgeschichtlich zu denken. Was Marx in einem wesentlichen und bedeutenden Sinne von Hegel her als die Entfremdung des Menschen erkannt hat, reicht mit seinen Wurzeln in die Heimatlosigkeit des neuzeitlichen Menschen zurück. Diese wird zwar aus dem Geschick des Seins in der Gestalt der Metaphysik hervorgerufen, durch sie verfestigt und zugleich von ihr als Heimatlosigkeit verdeckt. Weil Marx, indem er die Entfremdung erfährt, in eine wesentliche Dimension der Geschichte hineinreicht, deshalb ist die marxistische Anschauung von der Geschichte aller übrigen Historie überlegen." (Heidegger, 1947: 87)

Als Grund für die Entfremdung der Moderne macht Heidegger allerdings den "technischen Humanismus" verantwortlich, dessen Wurzel er in der "Seinsvergessenheit" der abendländischen Theorie und Praxis sieht. In seiner Sicht hat Marx das Wesen der Technik nicht hinreichend erkannt, da er sie zu verharmlosend als Mittel der Beherrschung der äusseren Natur verstand, deren Entwicklung der Mensch sich anvertrauen könne, weil in ihrer Vollendung letztlich die Versöhnung der Menschen untereinander und mit der Natur enthalten sei. Dagegen wendet Heidegger ein, dass die Technik aufgrund des irrationalen Glaubens, der dem technischen Humanismus zugrunde liegt, nicht einfach als blosses Mittel aufzufassen ist, sondern den selbstentfremdeten Teil menschlicher Wesenskräfte darstelle.

Als treibenden Grund der Technik sieht Heidegger den Willen zur Macht. Dieser steht sich selbst in seinem Herrschaftsapparat machtlos gegenüber, und alle Versuche, den Expansionsprozess der Mittel durch kybernetische, linguistische und soziale Techniken oder auch reine Änderung der Produktionsmittel unter Kontrolle zu bringen, führen nach Heidegger nur noch tiefer in die Verstrickung hinein.

Im Anschluss an Heidegger betrachtet der französische Philosoph Jean-Paul Sartre (1905 bis 1980) Entfremdung in L'Être et le Néant (1943) im Spannungsverhältnis von lndividualitat (Für-sich, lch-selbst) und kollektivem Mit-Sein, wo sie als Einschränkung der Möglichkeit unbeschränkter individueller Freiheit im Für-Andere-Sein erfahren wird.

"Was ich mich schliesslich zu sein weigere, kann nichts anderes sein als jene Weigerung, ein Ich zu sein, durch das der Andere mich zum Objekt macht: oder, wenn man lieber will, ich lehne mein abgelehntes Ich ab; ich bestimme mich als Ich-Selbst durch Ablehnung des abgelehnten Ich: ich setze dieses abgelehnte Ich als entfremdetes Ich, und zwar in dem Auftauchen selbst, durch das ich mich vom andern losreisse. Aber dadurch erkenne und bejahe ich nicht nur den Anderen, sondern auch die Existenz meínes Ich-für-Andere: ich kann nämlich nicht der Andere nicht sein, wenn ich nicht mein Objekt-Sein-für-Andere auf mich nehme. Das Verschwinden des entfremdeten Ich wurde das Verschwinden des Anderen durch den Zusammenbruch des Ich-Selbst nach sich ziehen. Ich entziehe mich dem Anderen, indem ich ihm mein entfremdetes Ich in den Händen lasse, Aber da ich mich als Losreissung vom Anderen erwähle, übernehme und anerkenne ich dieses entfremdete Ich als das meinige; es ist sogar nur das. So ist das entfremdete und zurückgewiesene Ich gleichzeitig meine Verbindung mit dem Anderen und Symbol unserer vollständigen Geschiedenheit." (Sartre, 1970: 377)

Um die Kritik des Marxschen Entfremdungsbegriffe und ihrer Aufhebung geht es G. Fessard, P. Bigo. J. Y. Calvez und P. Tillich. Sie stellen die Vorstellung, dass die Entfremdung allein durch gesellschaftliche Veränderung möglich sei, aufgrund der menschlichen Endlichkeit in Frage. lm Namen des frühen Marx kritisieren sie die Geschichte der marxistischen Theorie und deren politische und institutionelle Praxis.

Für die Vertreter der kommunistischen Orthodoxie in den Ländern des Realsozialismus ist die grundsätzliche Abwehr jeglicher theologischer, existenzialistischer, reformistischer und sozialtheoretischer Deutungen der Entfremdung jahrzehntelang zum Dogma geworden, was offensichtlich für die Selbstrechtfertigung und -erhaltung des Systems als nötig erachtet wird. Allerdings sind gerade in Polen Ansätze zu einer kritischeren empirischen und theoretischen Diskussion des Entfremdungskonzepts durchaus vorhanden, so bei B. Baczko, bei L. Kołakowski und vor allem bei A. Schaff. (31)

Von reformkommunistischen Autoren in Westeuropa und vor allem in Jugoslawien wird die Entfremdungsanalyse auf Partei- und Staatsbürokratie, Kader- und Hierarchiewesen, Leistungsethik, Lohnarbeit und Warenwirtschaft auch in den Ländern des Sozialismus angewendet mit dem Ziel, einen humanistischen und demokratischen Kommunismus institutionell zu realisieren. Dies trifft insbesondere auf die Autoren im Umfeld der später suspendierten Zeitschrift "Praxis" zu, etwa G. Petrović, P. Vranicki und M. Marković. (32)

So schreibt Marković:

"Es ist wahr, dass der Mensch der Gegenwart durch entfremdete soziale Kräfte, seien es Staaten, politische Organisationen, Armeen oder Kirchen versklavt wird. Aber die Frage ist: welche Faktoren brachten diese Kräfte hervor und was verleiht ihnen ihre Macht? (...) Ich glaube, dass fast alle zeitgenössischen Entfremdungsformen in der Existenz von Gesellschaftsgruppen wurzeln, die ein Monopol auf ökonomische oder politische Macht besitzen. Dieses Monopol beruht entweder auf dem privaten Besitz der Produktionsmittel (so im Falle des Kapitalismus) oder auf der privilegierten Stellung in der politischen Gesellschaftsorganisation (wie im Falle einer Bürokratie), oder auf beidem. 

   (...) Das Vorhandensein irgendeiner solchen Gruppe – welche die Position der politischen und ökonomischen Subjekte missbrauchen und alle andern Individuen und Gruppen in der Position von Objekten belassen, um sie zu manipulieren – ist die Basis aller andern Formen gegenwärtiger Entmenschlichung." (Marković, 1971: 281f.; meine Übers.)

E. Fromm (1900 bis 1980) und J. Habermas (1929*) haben sich philosophiegeschichtliche Verdienste erworben, indem sie mit Rückgriff auf die psychoanalytische Theorie der lndividuation die Analyse der Entfremdung über den Bereich der Arbeit hinaus auch auf Konsum und Freizeit ausgedehnt haben.

Von den positivistischen Sozialwissenschaftlern – etwa König, Topitsch, Tucker – wird schliesslich der Versuch unternommen, den Entfremdungsbegriff in seiner philosophischen Herkunft und gesellschaftstheoretischen Weiterführung global zu entmythologisieren oder, wie dies R. K. Merton im Anschluss an den bei Émile Durkheim aufgegriffenen Begriff der "Anomie" unternimmt, in seine einzelnen Elemente (soziale, politische und psychische Unangepasstheit zu zerlegen und so für empirische Forschungen zu operationalisieren. So löst etwa M. Seeman den Entfremdungsbegriff in die fünf Komponenten Machtlosigkeit, Sinnlosigkeit, Normlosigkeit, Isolierung und depersonalisierende Selbstentfremdung auf.